Kultur | Südtirol

Patrioten ohne Vaterland

Die Heimatliebe der Südtiroler ist eine verzwickte Sache. Genauso wie deren Verhältnis zu Europa und der Welt.

Der Siegesplatz in Bozen ist ein symbolträchtiger Platz. Hier steht das Siegesdenkmal, 1928 vom faschistischen Regime Mussolinis errichtet, um des Sieges im ersten Weltkrieg zu gedenken. 80 Jahre später führt ein Marsch der Südtiroler Schützen gegen den Faschismus direkt am umstrittenen Denkmal vorbei. 4.000 Menschen nehmen daran teil.

Diese Menschen haben die Umbenennung des Platzes in „Friedensplatz“ im Jahr 2002 sicherlich begrüßt. Rechte italienische Parteien machten aber schnell mobil und erreichten, dass der Platz heute wieder "Siegesplatz“ heißt. Als wäre dies nicht genug, nahmen neofaschistische Demonstranten nur ein Jahr nach dem Schützenmarsch den Platz ein. Nur gut, dass solche Demonstrationen bisher noch nie zeitgleich stattgefunden haben, möchte man denken. Aber um die erbitterte Feindschaft zwischen Schützen und italienischen Faschisten zu verstehen, muss man einen kurzen Blick in die jüngere Geschichte Südtirols werfen.

Einst eine eigenständige Grafschaft, dann Teil des Habsburgerreiches, zwischenzeitlich sogar des Herzogtums Bayern: Die Geschichte Tirols ist sehr bewegt, so wie es typisch ist für Grenzländer, die an der Schwelle zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachgruppen liegen. 1919 wurde das österreichische Kronland Tirol geteilt: Während Nord- und Osttirol bei der neuen Republik Österreich verblieben, ging Südtirol an Italien, den Sieger des Krieges.

Unter Mussolini unternahm Italien alles, um das neue Staatsgebiet zu assimilieren: Deutsch als Umgangssprache wurde verboten, Ortsnamen italianisiert, sogar die deutschsprachigen Nachnamen sollten übersetzt werden. Letzteres wurde wegen des internationalen Drucks dann aber doch nur in Einzelfällen umgesetzt. Ab 1939 musste die Bevölkerung entweder für Deutschland oder für Italien optieren. Das bedeutete, Hof und Gut stehen und liegen zu lassen und nach Deutschland auszuwandern – oder aber zu bleiben und sich in Italien weiterer Schikane und Unterdrückung auszusetzen. Die Option war das Ergebnis des Bündnisses zwischen Hitler und Mussolini. Einerseits wollte Hitler seine Freundschaft mit dem italienischen duce nicht gefährden, andererseits musste er der Kritik aus den eigenen Reihen begegnen, er ließe einen Teil des deutschen Volkes im Stich. Da bot sich diese Lösung an, die als großzügiges Angebot an die unzufriedenen Südtiroler verkauft wurde. Tatsächlich riss diese Politik aber ganze Familien auseinander und spaltete die Bevölkerung. 

Von der Volksabstimmung zum eigenen Nationalstaat

Warum sind diese historischen Begebenheiten überhaupt noch so aktuell? Inzwischen sind immerhin über 70 Jahre vergangen und Südtirol hat eine weitgehende politische Autonomie erreicht. Eva Klotz, Fraktionsvorsitzende der Bewegung Süd-Tiroler Freiheit, einer separatistischen Partei im Südtiroler Landtag, glaubt aber, dass sich die Erlebnisse dieser „faschistischen Vergewaltigungspolitik“ tief in das Erbmaterial der Menschen gegraben haben: „Die Angst um den Verlust der Heimat tragen wir noch in uns, deshalb ist es klar, dass wir Süd-Tiroler umso eifriger unsere Heimatliebe pflegen.“ Diese Heimatliebe äußert sich in zahlreichen Traditionen, Bräuchen, Schützenkompanien und eigentümlichen Dialekten, die bis heute überlebten. Und das alles, obwohl sich die geliebte Heimat – das geteilte Tirol – längst nicht mehr durch Landesgrenzen definieren lässt. 

Was soll Heimatliebe auch mit Landesgrenzen zu tun haben? Wenig, denn es handle sich nicht um einen geographischen Begriff, meint Eva Klotz, die sich über eine Rückkehr zu Österreich dennoch freuen würde: „Heimat ist etwas ganz anderes, sie ist die Gemeinschaft der Gefühle. Sie steht immer in Verbindung mit Emotionen.“ Eine ähnliche Meinung vertritt auch Sigmar Stocker von den Freiheitlichen, einer weiteren separastisichen Partei in Südtirol. Doch im Gegensatz zur Süd-Tiroler Freiheit, die lediglich vom Recht zur Selbstbestimmung eines Volkes Gebrauch machen will und eine Volksabstimmung zur politischen Zugehörigkeit Südtirols fordert, haben die Freiheitlichen bereits eine klare Vorstellung: Sie wollen einen eigenen Staat Südtirol gründen. In der Europawahl beispielsweise haben sie dementsprechend zusammen mit der rechtspopulistischen Lega Nord kandidiert.

Patriotismus in der Politik ist umstritten

Antagonistisch gegenüber den Freiheitlichen stehen im politischen Spektrum die Grünen. Sie blicken sehr skeptisch auf solche Argumentationen, in denen man primär vom Thema Heimat ausgeht. Gerade in Klotz‘ und Stockers emotionalem Heimatbegriff sieht der Historiker und Landtagsabgeordnete der Grünen, Hans Heiss, ein Problem: „Heimat ist natürlich immer etwas sehr Subjektives“, sagt er. „Der Begriff transportiert sehr starke Emotionen und das kann im politischen Diskurs, der doch einen Anspruch auf objektive Rationalität hat, sehr problematisch werden.“

In der Tat werden solche Emotionen sichtbar, wenn es um Einwanderungspolitik geht – allerdings in den negativen Ausprägungen Angst und Sorge. Der Freiheitliche Sigmar Stocker sieht das Problem folgendermaßen: „Wir hatten es in den letzten Jahren mit einer immer massiveren Immigration zu tun, und die Auswirkungen werden wir schon bald zu spüren bekommen. Hier geht es gar nicht so sehr um Schutz der eigenen Heimat, sondern um die viel weitreichendere Gefahr, dass die sozialen Gefüge außer Kontrolle geraten.“ Und Pius Leitner, Spitzenkandidat der Freiheitlichen für die Europawahl, sieht in einer großzügigen Einwanderungspolitik sogar ein Übel für die Asylanten selbst, wie er bei einer Veranstaltung zum Europawahlkampf beteuert: „Anstatt unsere Türen zu öffnen, wäre es viel vernünftiger und vor allem kostengünstiger, Einwanderung zu verhindern, indem man die Dinge direkt in den Ländern, woher diese Menschen kommen, auf die Reihe kriegt.“ Ob es kostengünstiger wäre, ist zumindest aus rein ökonomischer Sicht sehr fraglich.

Zum Credo „Einheimische zuerst, danach die Ausländer“ mag man stehen wie man will. Interessant ist aber die Frage, die diese Einstellung aufwirft: Ist es überhaupt möglich, Patriot zu sein, ohne sich gegen andere abzugrenzen oder Rangordnungen zu erstellen? Eva Klotz ist überzeugt, dass man diese Frage mit Ja beantworten kann. „Im Gegenteil“, sagt sie, „je sicherer ich in meiner Identität und Zugehörigkeit bin, desto leichter kann ich mich Anderem öffnen. Je fester ein Baum verwurzelt ist, desto weitere Äste kann er treiben.“ Und sie verweist auf die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien, deren Vertreter vielfach ehemalige Einwanderer sind, die nun eine neue Heimat gefunden haben und für derssen Freiheit kämpfen wollen. Der Historiker Heiss zeigt sich da skeptischer und gibt zu bemerken, dass zunächst die Begrifflichkeiten geklärt werden müssen: „In diesem Kontext ist es üblich, zwischen Patriotismus und Nationalismus zu unterscheiden. Während Patriotismus nur die Heimatliebe bezeichnet, steht Nationalismus für eine Verherrlichung des Vaterlandes, die sich durch radikale Abgrenzung gegen andere Länder und Völker charakterisiert. Die Grenzen verschwimmen dabei oft. „Wie es Nationalismus ohne rassistische oder chauvinistische Züge geben kann, so gibt es auch Patriotismus, der sich verherrlicht, indem er das Andere niedermacht.  Dabei bin ich skeptisch, ob sich nicht jeder Patriotismus langfristig auf Abgrenzung gegen das Fremde hin entwickelt.“ In der Tat liest man auch im Programm der Süd-Tiroler Freiheit Sätze wie: „Das Anwerben ausländischer 'Billigarbeitskräfte‘ wird sich (…) negativ auswirken, da sie damit die heimische Wirtschaft schwächen und somit den Ast absägen, auf dem alle sitzen.“

Über den Tellerrand hinausschauen

Die Diskussion in Südtirol steht exemplarisch für den Konflikt zwischen solipsistischer Heimatliebe und solidarischer Selbstvergessenheit. Während die einen im separatistischen Denken verharren, sehen andere die Möglichkeit, zweisprachig aufzuwachsen. Und zwei Sprachen bedeutent immer zwei Kulturen. Das kann für das Kind nur eine Bereicherung sein, darin sind sich die meisten Psychologen einig. Leider ist jedoch nur ein Teil der Südtiroler Bevölkerung perfekt zweisprachig, vor allem diejenigen, die bereits in der Familie mit beiden Sprachen aufwachsen. Von der Schule darf man sich nicht allzu viel erwarten, vor allem in italienischen Schulen ist das Deutsch-Niveau oft miserabel. Dennoch ist es vor dem Hintergrund dieser Mischung der Kulturen verständlich, dass sich viele gar nicht mehr wirklich darum kümmern, ob auf ihrem Pass nun die italienische, österreichische oder gar die südtirolerische Staatsbürgerschaft angeführt ist. Vor allem bei der jungen Generation treffen Aktionen wie das inoffizielle Referendum zur Selbstbestimmung der Süd-Tiroler Freiheit oder die Diskussionen um das Siegesdenkmal immer häufiger auf Unverständnis.

Ein Artikel in der Politik-Zeitschrift Cicero kritisierte sogar die „kleinmütige Beschränktheit“ separatistischer Bestrebungen. Der Separatismus sei die Krankheit Europas, verborgen unter dem Deckmantel eines großen Wortes: Freiheit.

So sehr würde es Hans Heiss nicht zuspitzen. Allerdings gibt auch er sich nicht mit der Argumentation der Freiheitlichen zufrieden, dass es in der Politik drauf ankomme,  regional zu handeln, ohne den Anspruch zu haben, die Probleme der Welt zu lösen. Die ganze Welt sei ohnehin ein sehr philosophisches Konzept, heißt es bei den Freiheitlichen. Im Gegenteil, meint Heiss, sei die Welt aber sehr konkret, und das bedeute, dass wir in unseren politischen Entscheidungen das Ganze im Blick behalten müssen, indem wir uns stets bemühen, über den Tellerrand hinauszuschauen und auf den Anderen zuzugehen.

Dabei hat auch Sigmar Stocker die Wohltat von Gastfreundschaft erlebt. „Wenn man mit einem traditionellen Südtiroler Schurz auf das Münchner Oktoberfest geht, kann es dort noch so überfüllt sein, aber man findet immer einen Platz. Die Bayern haben eine besondere Sympathie für uns“, schwärmt er. „Sie halten dem Südtiroler immer einen Platz frei, auch wenn sie ihn nicht persönlich kennen.“ Solche Geschichten erwärmen das Herz, und doch könnte man sich fragen: Was hätte Herr Stocker dazu gesagt, wenn man ihm beim Anblick der fremden Tracht den Platz versagt und ihm entgegnet hätte: „Einheimische zuerst“?

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pérvasion Sa., 14.06.2014 - 20:00

»[...] sogar die deutschsprachigen Nachnamen sollten übersetzt werden. Letzteres wurde wegen des internationalen Drucks dann aber doch nur in Einzelfällen umgesetzt.« Gibt es für diese Aussage eine Quelle? Mir ist das nämlich neu.

Und kann der Autor irgendwie belegen, dass »Aktionen« wie das inoffizielle Selbstbestimmungsreferendum »immer häufiger auf Unverständnis« stoßen?

Sa., 14.06.2014 - 20:00 Permalink
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Teseo La Marca So., 15.06.2014 - 22:48

Antwort auf von pérvasion

Hier ist eine Quelle: http://de.scribd.com/doc/2464089/Die-gewaltsame-Italianisierung-der-Fam…
Die andere Behauptung hingegen ist schwer zu belegen, wenn nicht durch Umfragen, und auch dann wären Daten aus früherer Zeit nötig, um Vergleiche anstellen zu können. Es handelt sich um eine simple Beobachtung, über die man natürlich diskutieren kann.

So., 15.06.2014 - 22:48 Permalink
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pérvasion Sa., 14.06.2014 - 20:02

Schade übrigens, dass in solchen Betrachtungen zur Selbstbestimmung häufig die Brennerbasisdemokratie »vergessen« wird. Weil sie sich nicht so einfach als rechts, ausschließend und rückwärtsgewandt abtun lässt?

Sa., 14.06.2014 - 20:02 Permalink
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Roland Kofler Sa., 14.06.2014 - 21:29

Die Suedtiroler Geschichte wird meist von 1918 an erzaehlt, doch ich finde es auch notwendig die politische Situation vor dem 1. Weltkrieg mitzubetrachten. Weite Teile Nord-Italiens unter der Austro-Ungarischen Monarchie, bemuehen der Irridentistischen Bewegung um mehr Autonomie (z.B. Italienischsprachige Universitaeten) waren vergebens. Der italienische Freiheitskaempfer Cesare Battisti (der uebrigens ein Italien bis zu Salurn anstrebte) 1916 in Trient wegen Hochverrats hingerichtet und von seinem Leichnam trophaenmaessige Postkarten gedruckt. Auf italienischer Seite waren also zu Begin unserer Suedtiroler Zeitrechnung 1918 schon einige Narben vorhanden. Dies bitte auch mitzudenken.

Sa., 14.06.2014 - 21:29 Permalink
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Guntram Bernulf Do., 26.06.2014 - 08:41

Antwort auf von Roland Kofler

Wieviele "Narben" sind notwendig, um einen Angriffskrieg zu rechtfertigen?
Wenn morgen Russland in die Ostukraine einmarschiert, würden Sie dann auch sagen, dass es aber schon einige Narben auf russischer Seite aus der Zeit vor dem Maidan gegeben hat?
Dass man das bitte auch mitdenken sollte?
Hier soll nur der Intervento gerechtfertigt werden.

Do., 26.06.2014 - 08:41 Permalink
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Franz Hilpold Mo., 18.02.2019 - 15:43

Antwort auf von Guntram Bernulf

Lieber Herr Bernulf, das Beispiel greift nicht. Der Angriffskrieg Italiens war durch nichts zu rechtfertigen, Österreich-Ungarn war zu weitgehenden Konzessionen bereit. Wenn hingegen Russland endlich in die Ostukraine einmarschieren würde, müsste man sagen es sei höchste Zeit gewesen, genaugenommen sollten sie nach Kiew marschieren und das Faschistenpack, das durch den Maidan-Putsch an die Macht gekommen ist, absetzen und einsperren sowie die rechtmä ßige Regierung wieder einsetzen. Auch wenn dann bestimmte westliche Regierungschefinnen noch mehr wie ein Kalb dreinblicken.

Mo., 18.02.2019 - 15:43 Permalink
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Benno Kusstatscher Sa., 14.06.2014 - 22:00

Ich wünsche dem Praktikanten einen guten Start und freue mich auf weitere frische Beiträge. Allerdings bietet sich Vorsicht, im Münchner Umfeld die oft allzu bajuwarische Sichtweise auf unser Land nicht zu unserer eigenen Selbstwahrnehmung werden zu lassen. Lass die Münchner ruhig wissen, dass das ehemalige Kronland in vier große Teile zerrissen wurde, nicht nur in drei, dass Bayern auch in Hochzeiten nicht bis zum Gardasee gereicht hat, und dass unser Land nicht etwa ein zweisprachiges ist, sondern Dreisprachigkeit unser gehüteter Schatz ist.

Sa., 14.06.2014 - 22:00 Permalink
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Mensch Ärgerdi… So., 15.06.2014 - 16:12

Typischer links-grün orientierter Arikel zum Thema Südtirol und Südtiroler. Wie wäre es denn wenn die jungen Leute mal was neues schreiben würden? Z.B. dass der Unabhängigkeitsgedanke bzw. Freiheitsgedanke in Katalonien auch von linken Parteien getragen wird, und wie unsere Linke dazu stehen? Wieso werden Únabhängigkeitsbefürworter immer als Rechte oder Rechtspopulisten abgestempelt?

So., 15.06.2014 - 16:12 Permalink