Gesellschaft | Verkehr

„Wir müssen auf die Straße gehen“

Steht uns in Sachen Verkehr eine Schubumkehr bevor? Der Bozner Protestmarsch ist nur ein Indiz dafür, dass langfristige politische Vertröstungen nicht mehr reichen.
Verkehrsschilder Stopp
Foto: PxHere

Verkehr bewegt –  in dieser Woche auch Südtiroler Gemüter.  Lange Zeit schienen Grenzwertüberschreitungen und Lärmbelastung hierzulande kaum jemand hinter dem Ofen hervorzulocken, was nicht zuletzt Tiroler Transitgegner wie Fritz Gurgiser zur Verzweiflung brachte. Abseits der üblichen grünen Verdächtigen hat das Thema Verkehr bislang vor allem dann Aufregerpotential, wenn es um Einschränkungen wie Fahrverbote oder Geschwindigkeitslimits geht – ob wie zuletzt in Meran oder bei der Einführung des Speed Checks. Nun dagegen gibt es zumindest Anzeichen, dass sich der Wind - rechtzeitig vor den Landtagswahlen 2018 - drehen könnte. Warum sonst lädt beispielsweise eine Bewegung wie die Süd-Tiroler Freiheit am morgigen Mittwoch in Trens zu einem Info-Abend, bei dem ausgerechnet Gurgiser über den „Transit-Terror“ spricht? „Asthma, Bronchitis, Lungenschäden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Herzinfarkte: das sind einige der Folgeerscheinungen des LKW-Transits auf der Brennerautobahn“, heißt es in der Einladung, in der die Bewegung darauf hinweist, dass in Südtirol mehr Menschen an schlechter Luft sterben als bei Autounfällen.

Töne, die zuletzt Immer öfter zu vernehmen sind - in- und außerhalb Südtirols.  Wenn beispielsweise ein keineswegs wirtschaftsferner Tiroler ÖVP-Landeshauptmann Günther Platter die „Transit-Lobby-Hörigkeit der italienischen Regierung“ auch nach dem geschlagenen Wahlkampf  als „unerträglich“ bezeichnet. Wenn EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc laut neuesten Meldungen überlegt, ob das Prinzip der Warenfreiheit nicht doch für eine LKW-Obergrenze auf der Brennerroute geopfert werden kann. Oder wenn die Meraner Stadtregierung Fußgänger und Radfahrer in Zusammenhang mit ihrem neuen Mobilitätsplan klar an die oberste Stelle und das Auto als Schlusslicht ihrer Prioritätenskala reiht.

Besorgte BürgerInnen

Doch auch abseits der Politik tut sich etwas, zeigt die Einladung zum gemeinsamen Marsch auf das Bozner Rathaus am Donnerstag dieser Woche, die in diesen Tagen an Wänden und Laternenmasten der Landeshauptstadt hängt und in sozialen Netzwerken geteilt wird. „Bozen erstickt im Verkehr – Bolzano soffocato dal traffico“ heißt es darauf oder „Wir fordern sofortige Lösungen“. Der Absender? „Besorgte BoznerInnen“, „Bolzanine e Bolzanini preoccupati“. Eine politisch unabhängige und lose Gruppe, die sich aus der Vernetzung der Initiative Verkehr Gries mit BürgerInnen aus anderen Stadtvierteln ergeben hat – und die nun nach den drei Grieser Protestmärschen erstmals für ganz Bozen auf die Straße ruft.

Damit ist auch eine wichtige Botschaft der Organisatoren verbunden: Wir lassen uns nicht gegeneinander ausspielen, sondern ziehen gemeinsam an einem Strang. „Es geht nicht um die Verlagerung des Verkehrs innerhalb der Stadt, es geht um eine Reduzierung“, sagt Melitta Pitschl. Die Kulturwissenschaftlerin mit dem wallenden roten Schopf ist das Ur-Gestein der jungen Bürgerbewegung. Zuletzt auch als einer der Köpfe von lab:bz, dem Stadtlabor Bozen, wo dem Thema Verkehr ebenfalls viel Raum gegeben wird. Vor allem aber interveniert Pitschl seit gut zwei Jahrzehnten bei Beamten wie Politikern auf Gemeinde- und Landesebene, um verkehrsmäßige Belastungen anzukreiden und konkrete Verbesserungen einzufordern. Mittlerweile hat sie in Gries einen festen Kern an Mitstreiterinnen und Mitstreitern um sich, die nun auch die Initialzündung für die geplante stadtweite Protestaktion gegeben haben.

"Kinder leiden stärker unter Abgasen"

Besser könnte der Moment dazu kaum sein. Gerade haben der Umweltlandesrat höchstpersönlich und zwei seiner leitenden Beamten eingeräumt, dass es in der Landeshauptstadt nicht nur an einem oder zwei, sondern an vielen Punkten Probleme mit der Übertretung von Schadstoff-Grenzwerten gibt. Allem voran mit dem mittlerweile zu unrühmlicher Bekanntheit gekommenen Stickstoffdioxid. Ein Problem, das nicht nur Klagen vor dem europäischen Gerichtshof mit sich bringen könnte, wie EU-Umweltkommissar Karmenu Vella erst unlängst für mehrere Mitgliedsstaaten androhte,  sondern ganz unmittelbare gesundheitliche Konsequenzen für die Boznerinnen und Bozner hat: Das veranschaulichte die Ärztin Patrizia Zambai vergangene Woche bei einem Informationsabend der Vereinigung Ambiente & Salute auf Basis von Daten der Weltgesundheitsorganisation und der Europäischen Umweltagentur . „Wenn die Konzentration an Stickstoffdioxid um 10 Mikrogramm pro Kubikmeter steigt, nehmen die Spitalsaufnahmen von Erwachsenen wegen Asthma und akuter Lungenentzündung in den darauffolgenden vier bis fünf Tagen um rund ein Prozent zu, jene von Kindern um drei Prozent“, war eines der Beispiele, das sie zitierte. Bei einem höheren Anstieg der Schadstoffe würde die Zahl der Hospitalisationen im Verhältnis dazu steigen.

 

Und: Generell seien Grenzwerte wie jene von 40 Mikrogramm für Stickstoffdioxid nur als Kompromiss zwischen den Forderungen von Gesundheitsbehörden und der Politik oder Wirtschaft zu sehen, klärte Zambai einen Saal voll verkehrsmüder Anrainer der Bozner Romstraße und der umliegenden Viertel auf. „Gerade für krebserregende Substanzen gibt es keine Schwellenwerte, sie schaden auch in Konzentrationen unter den gesetzlich vorgegebenen Grenzwerten.“ Und zwar noch weit schlimmer, wenn statt akuter erhöhter Belastungen eine chronische Exposition gegeben sei. Noch mehr als für Erwachsene, gelte das für Kinder, die besonders anfällig gegenüber den Abgasen seien. „Es gibt mehrere Studien, die zeigen, dass bereits eine Konzentration von 20 Mikrogramm Beschwerden mit sich zieht, weil sich die Atemwegsunktionen von Kindern nicht vollständig entwickeln können“, erklärte die Ärztin. Folgen könnten unter anderem chronische Entzündungen oder Asthma sein, dessen Rate bei Kindern seit den Siebziger Jahren von 2,3 Prozent auf 10 Prozent angestiegen sei. „Auch Tumorerkrankungen bei Kindern steigen in Italien jedes Jahr um zwei Prozent, womit wir europaweit zu den Spitzenreitern gehören“, sagte die Ärztin.  

"Welche Stadt wollen wir?"

Warum schaltet sich Südtirols Ärztekammer angesichts solcher Daten nicht stärker in die Verkehrsdiskussion ein, fragt die Ärztin. Warum ist die Stadt- und Landesregierung immer noch nicht in der Lage, einen innovativen Verkehrsplan zu erstellen, der den vielfältigen Schädigungen und Belastungen durch den Verkehr Rechnung trägt, fragt Melitta Pitschl.  Mit einem effizienten und potenzierten öffentlichen Transport, der die neuen Wohnquartiere der Stadt miteinbezieht, mit Parkplätzen und -häusern rund um die Stadt, von denen Pendler mit gut funktionierenden Shuttlediensten in die Stadt gebracht werden, mit besseren Anbindungen der umliegenden Gemeinden. „Warum ist jemand, der in Siebeneich oder Terlan wohnt auf den Bus nach Meran angewiesen, in dem die Menschen vielfach wie Sardinen eingepfercht werden“, ist eine der vielen Fragen, die Melitta Pitschl an die Politik hat. Der wirft sie ohnehin eine mangelnde Fähigkeit vor, „interdisziplinär zu denken und zu handeln“. Das zeige sich schon allein bei den beiden Bozner Benko-Projekten in Gries und am Busbahnhofsareal, wo einem Großinvestor Zugeständnisse gemacht würden, ohne die negativen Auswirkungen auf den Verkehr zu berücksichtigen. Doch auch der Bau immer neuer Straßen und Umfahrungen  rund um Bozen würden den Verkehr in der Landeshauptstadt immer unerträglicher werden lassen, kritisiert die Gruppe. „Wer Straßen baut, zieht Autos an“, wiederholen sie. Wer dagegen Geh- und Radwege sowie freie Flächen ausbaue, fördere eine sanfte Mobilität.

Welche Stadt wollen wir? Das ist die zentrale Frage, die sich die Menschen in Bozen laut Melitta Pitschl und ihren MitstreiterInnen stellen sollen. Wollen wir eine Stadt, in der sich ältere Menschen im öffentlichen Raum wegen des Verkehrs unsicher fühlen, in der Eltern Angst um ihre Kinder haben, und dennoch den Schulen bestätigen sollen, dass auf dem Schulweg keine Gefahren lauern, in der Lärm und Abgase unsere Gesundheit gefährden? Oder wollen wir eine Stadt, in der öffentlicher Raum nicht vorwiegend dem Autoverkehr gewidmet wird, in der Parkplätze und Straßenabschnitte wieder „für gesunde und kreative Beweglichkeit von uns allen zurückerobert werden - zum Stehen-bleiben, Miteinander-reden, zum gemeinsamen Sich-bewegen, für Kinderwägen, Rollatoren, Rollstühle und fürs Nebeneinandergehen-können, das heute auf vielen Gehsteigen in Bozen bereits nicht mehr möglich ist“, fragen die OrganisatorInnen des Protestmarsches.

 

Träumerische und naive Vorstellungen, mögen manche sagen. Höchste Zeit, dies endlich einzufordern andere. Wo die Grenzen zwischen den Gruppen verlaufen und wie viele Menschen in Bozen tatsächlich stärker an ihrer Gesundheit und Lebensqualität als am Parkplatz vor ihrer Haustür interessiert sind, ist schwierig abzuschätzen. Die Beteiligung am Protestmarsch am Donnerstag wird zumindest ein Indiz dafür sein. Melitta Pitschl jedenfalls hofft, dass viele Menschen aus unterschiedlichen Vierteln der Stadt die Chance wahrnehmen, zu zeigen, dass sie unter der Verkehrsbelastung leiden und sich nicht länger vertrösten lassen wollen. „Wir müssen wieder auf die Straße zurück“ , ist sie überzeugt. Davon hätten sie die Reaktion der vielen Menschen, „vom Kleinkind bis zu über 80-Jährigen“ überzeugt, die bei den ersten Demos in Gries dabei waren. „Denn so viel Dankbarkeit und Begeisterung darüber, endlich von der Ohnmacht ins Handeln zu kommen, habe ich noch nie erlebt.“