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Der Traum von einem Europa ohne Grenze

Ein Textbeitrag von Theresia Morandell aus dem neuen Skolast, der Zeitschrift der Südtiroler HochschülerInnenschaft. Die Ausgabe GrenzenLos ist vor kurzem erschienen.
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Foto: Skolast

Staatsgrenzen sind für uns Europäer nur mehr symbolischer Natur. Häufig erinnern lediglich die blauen Straßenschilder, an denen wir auf der Autobahn vorbeiflitzen, dass wir die Grenze von einem Staat zum nächsten überschritten haben. In den letzten Jahren sind zwischenstaatliche Grenzen allerdings erneut zu einem heiß diskutierten und stark umstrittenen Thema geworden. Einige Staaten, darunter auch Deutschland und Österreich, haben sogar begonnen, an ihren Staatsgrenzen wieder Personenkontrollen durchzuführen. Für unsere studentische Generation ist das eine Neuheit, ein kleiner Schock sogar. Auch am Brenner müssen wir mittlerweile eine Wand an Sicherheitskräften passieren, wenn wir mit dem Zug nach Österreich und wieder zurück wollen. Das sind wir nicht gewohnt!

Für uns ist es selbstverständlich, reibungslos von einem Land ins nächste zu reisen. Ohne Kontrollen, ohne Probleme, einfach so: Das Schengener Abkommen macht’s möglich. Denn eigentlich haben immer mehr Länder Europas in den letzten 20 Jahren ihre Grenzen geöffnet und damit Kontrollen an ihren Staatsgrenzen eine Absage erteilt. Dies war ein großer Schritt, den die Nationalstaaten da gemeinsam zurückgelegt haben und er hat sie gleichzeitig auch einiges an Überwindung gekostet. Meistens ist uns gar nicht mehr so richtig bewusst, dass das Schengener Abkommen, das die für uns so selbstverständlichen kontrollfreien Grenzübergänge ermöglicht, das Ergebnis eines langen Weges ist. Dieser Weg ist gezeichnet von Unsicherheiten und zähen Verhandlungen, allem voran aber von einer großen Vision: Die Zukunft Europas soll eine ohne Grenzen sein, Personen und Waren sollen sich frei im europäischen Raum bewegen können. Um die Anfänge dieser Vision grenzenloser Freiheit erkunden und den Weg hin zum Schengener Abkommen nachvollziehen zu können, müssen wir mehr als 30 Jahre in die Vergangenheit reisen. Denn die Ursprünge dieses Abkommens liegen in den 1980er Jahren.

Grenzkontrollen? Altmodisch!

Ein Europa ohne Grenzkontrollen: Davon träumt der Europäische Rat, die Gemeinschaft der europäischen Staats- und Regierungschefs, schon im Jahre 1984. Deshalb bringen wir das Schengener Abkommen meistens auch gleich mit der Europäischen Union in Verbindung. Dabei dürfen wir aber den Schengen-Raum nicht mit der EU an sich verwechseln! Denn tatsächlich werden erste Schritte in Richtung Grenzöffnung nicht innerhalb der EU-Institutionen ausgearbeitet, sondern wesentlich von Deutschland und Frankreich vorangetrieben. Sie bringen diese Idee in den Europäischen Rat ein und sie sind so sehr davon begeistert, dass sie noch im selben Jahr ein zwischenstaatliches Abkommen schließen, um Personenkontrollen an der deutsch-französischen Grenze zu erleichtern. Bald schon schließen sich auch Belgien, Luxemburg und die Niederlande diesem Abkommen an. Die Zeichen stehen auf Veränderung: Europa soll endlich weiter zusammenwachsen und nicht mehr durch Kontrollhäuschen oder Zollstangen getrennt werden!

Keine Grenzkontrollen mehr: Ja, und dann?

Trotzdem ist und bleibt die europäische Gemeinschaft in dieser frühen Phase gespalten. Einige Länder können sich nämlich noch nicht so ganz mit dem Gedanken einer Grenzöffnung anfreunden, denn Grenzkontrollen erfüllen eine wichtige Sicherheitsfunktion für die Nationalstaaten. Durch sie kann kontrolliert werden, wer ein Land betritt, wann, wie und wo er es wieder verlässt und ob er unerlaubte Ware mit sich führt. Durch eine Grenzöffnung fehlen den Staaten aber genau diese Informationen, wodurch große Hindernisse für den Drogenhandel, die organisierte Kriminalität und die illegale Einwanderung einfach so wegfallen würden. Der Traum von einem grenzenlosen Europa könnte sich gleichzeitig also auch schnell zu einem Sicherheits-Alptraum entwickeln. Genau diesen Sorgen müssen Deutschland, Frankreich und die drei Benelux-Staaten nun Rechnung tragen, wenn sie wollen, dass sich weitere Mitglieder ihrem Projekt anschließen. Als sie im Juni 1985 das „Schengener Übereinkommen über den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen“ unterzeichnen und damit die Geburtsstunde des Schengener Abkommens besiegeln, flechten die sechs Vorreiter-Staaten deshalb gleichzeitig auch eine Antwort auf diese Sicherheitsbedenken in den Vertragstext mit ein. Nicht nur der Abbau der Grenzkontrollen wird festgelegt, sondern darüber hinaus werden auch eine Reihe von sogenannten Ausgleichmaßnahmen beschlossen. Genau diese Ausgleichsmaßnahmen sollen dafür sorgen, dass die zukünftigen Schengen-Staaten negativen Auswirkungen einer Grenzöffnung auf die nationale Sicherheit effektiv und vor allem gemeinsam entgegenwirken können.

Das „ABC“ der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit

Konkret bedeutet das, dass einheitliche Einreise-, Visa und Asylvorschriften bestimmt werden und für den gesamten Schengen-Raum gelten sollen. Polizei und Justiz werden von nun an grenzüberschreitend zusammenarbeiten, um Kriminelle schnell und einfach überführen oder ausliefern zu können. Auch gemeinsame Maßnahmen gegen den Drogenhandel werden ergriffen. Für all diese Maßnahmen soll eine Datenbank entwickelt werden, anhand derer die Mitgliedsstaaten Informationen über die im Schengen-Raum zirkulierenden Personen und Güter austauschen können. Heute ist diese Datenbank als Schengener Informationssystem (SIS) bekannt und gilt als unerlässliches Instrument, um die nationale Sicherheit trotz offener Grenzen gewährleisten zu können. Alles in Allem soll durch das Schengener Abkommen also ein „einheitliche[r] Raum der Sicherheit und des Rechts“ entstehen, die tatsächlichen Staatsgrenzen zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten verlieren an Bedeutung. Das einzig Entscheidende sind von nun an die Außengrenzen des Schengen-Raums: Nur dort soll streng kontrolliert und von vornherein entschieden werden, wer die Staatengemeinschaft betreten und sich infolgedessen auch frei darin bewegen darf und wer nicht.

Von der Idee zur Praxis - kein einfacher Weg

1985 ist man sich in der kleinen luxemburgischen Gemeinde Schengen also einig: Grenzkontrollen sollen im Zuge des Schengener Abkommens abgeschafft und etwaige daraus resultierende Sicherheitsrisiken durch eine vermehrte zwischenstaatliche Kooperation abgefangen werden. Dieser Vorsatz stellt die ehrgeizigen Vorreiter-Staaten aber prompt vor ihr nächstes Problem: In all diesen eben beschriebenen Bereichen wurde vorher noch nie grenzüberschreitend zusammengearbeitet, politisch gesehen betreten die Staaten hierbei also völliges Neuland. Gerade deswegen sind die Jahre nach der Unterzeichnung des Schengener Abkommens auch gefüllt mit zähen Verhandlungen, in denen all die visionären Vorhaben konkretisiert und ein Bauplan für deren Umsetzung entworfen werden muss. Erst 1993 erfolgt der große Durchbruch und das Schengener Abkommen kann mit all seinen Einzelbestimmungen schrittweise in Kraft treten. Der Traum von einem grenzenlosen Europa rückt damit in greifbare Nähe, 1995 wagen schließlich die ersten Schengen- Staaten den Schritt zur endgültigen Grenzöffnung.
Schon während der Verhandlungsphase treten immer mehr europäische Staaten dem Schengener Abkommen bei, Italien bereits 1990. Die folgenden Jahre sind geprägt von einer rasanten Erweiterung des Schengen-Raums und nach dem EU-Beitritt Österreichs im Jahre 1995 sind dann endlich auch die Weichen für eine Grenzöffnung am Brenner gestellt. Diese erfolgt im April 1998 und wird von hochrangigen Vertretern aus Österreich und Italien kräftig gefeiert.
Bis zu diesem Zeitpunkt bilden die mit dem Schengener Abkommen verbundenen Verträge aber immer noch ein autonomes, neben der EU existierendes Vertragsgebilde. Das ändert sich, als das Schengener Abkommen 1999 im Zuge des Vertrags von Amsterdam schließlich in den europäischen Rechtsrahmen integriert und somit offiziell Teil der Europäischen Union wird.

Grenzkontrollen passé?

Grenzkontrollen gehören nun also höchst offiziell und in die Praxis umgesetzt der Vergangenheit an. Oder so sollte es zumindest sein, denn da ist ja immer noch die Sache mit den wieder eingeführten Grenzkontrollen in Deutschland, Österreich und einigen anderen EU-Staaten. Diese haben in den letzten zwei Jahren für viel Frust und mitunter auch für kilometerlangen Stau auf der Autobahn gesorgt. Eigentlich widersprechen diese neu eingeführten Kontrollen doch der Schengen-Vision von einem grenzenlosen Europa, oder? Eigentlich schon, aber jede Regel hat nun mal ihre Ausnahme und beim Schengener Abkommen besagt diese: Liegt eine „schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit vor“, dann dürfen Grenzkontrollen wieder eingeführt werden. Zwar nur vorübergehend, solange diese Bedrohung eben andauert, aber wie die letzten beiden Jahre gezeigt haben, ist „vorübergehend“ doch ein sehr dehnbarer Begriff und er kann nicht verhindern, dass wir Europäer uns erneut durch Grenzen einschränken.

Der Schengen-Raum: Zahlen und Fakten

• Mehr als eine Milliarde Mal werden nach Angaben der Europäischen Kommission jährlich Grenzen innerhalb des Schengen-Raums passiert.
• 419 Millionen Einwohner leben im Schengen-Raum auf einer Fläche von insgesamt 4,3 Millionen Quadratkilometern.
• Mehrere Tausend Kilometer an Grenzen, die reibungslos und ohne Personenkontrollen passiert werden können, umfasst der Schengen-Raum heute. Allein die Außengrenzen sind 50.000 Kilometer lang und verlaufen zu 80 Prozent im Wasser.
• 26 Staaten zählen heute zu den Mitgliedern des Schengen-Raums und zwischen ihnen gibt es keine Grenzkontrollen mehr.
• EU-Mitglieder, aber nicht nur gehören zum Schengen-Raum. Auch die Schweiz, Island und Norwegen sind dem Schengener Abkommen beigetreten, obwohl sie keine Mitgliedsstaaten der EU sind. Dafür haben sich aber Irland und das noch-EU-Mitglied Großbritannien stets geweigert, Schengen beizutreten.
• Drei europäische Staaten haben ihre Grenzen ebenfalls geöffnet, obwohl sie kein offi zielles Mitglied des Schengen-Raums sind: Monaco, San Marino und der Vatikan.
• Eine Warteliste von Staaten, die dem Schengener Abkommen beitreten wollen, gibt es auch: Kroatien, Rumänien, Bulgarien und Zypern sind zwar EU-Mitglieder, durften bisher aber noch nicht dem Klub der Schengen-Staaten beitreten.

Salto in Zusammenarbeit mit SKOLAST

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gorgias Sa., 21.04.2018 - 21:29

>Das einzig Entscheidende sind von nun an die Außengrenzen des Schengen-Raums: Nur dort soll streng kontrolliert und von vornherein entschieden werden, wer die Staatengemeinschaft betreten und sich infolgedessen auch frei darin bewegen darf und wer nicht.<

Das ist das einzig Entscheidende von nun an: Werden die Außengrenzen nicht richtig kontrolliert, dann wird der Schengenraum auch nicht Funktionieren. Doch viele "jungen Leute" für denen selbstverständlich ist, dass es keine europäische Innengrenzen mehr gibt sehen nicht ein dass man auch die Außengrenzen richtig kontrollieren muss. Ich hoffe die junge Generation kapiert das schnell und bringt dafür auch den politischen Willen auf, denn aus NO BORDER, kann dann schnell MORE BORDER werden. Und dem Rest der Welt ist dann auch nicht geholfen.

Sa., 21.04.2018 - 21:29 Permalink
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Michael Bockhorni So., 22.04.2018 - 09:41

wer "ideologiefrei" ein bisschen im Gedächtnis oder in den Medien etc. blättert, wird entdecken, dass auch vor 2015 die Außengrenzen nicht "ordentlich" geschützt waren. Jahrzehntelang sind schon die Menschen im Mittelmeer ertrunken. Ein Blick auf die Landkarte samt den Küstenlinien zeigt ja auch, dass ein lückenloser Schutz nicht so einfach machbar ist. Interessant wäre zu wissen, wie hoch die aktuellen Migrationszahlen im Vergleich z.B. zum Jahr 2014 sind. Weiters um wieviel Prozentpunkte die sog. Flüchtlingswelle" 2015 - 2017 die durchschnittliche Migration nach Europa erhöht hat.

So., 22.04.2018 - 09:41 Permalink
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Robert Tam... So., 22.04.2018 - 17:04

Antwort auf von Michael Bockhorni

"wer 'ideologiefrei' ein bisschen im Gedächtnis oder in den Medien etc. blättert, wird entdecken, dass auch vor 2015 die Außengrenzen nicht 'ordentlich' geschützt waren."

Stimmt absolut. Im Oktober 2013 begann aber die Operation „Mare Nostrum“, ein Jahr später 2014 wurde sie von der "Operation Triton" abgelöst. Seit Beginn dieser Seerettungsoperationen sind die Ertrunkenenzahlen im Mittelmeer explodiert: 700-900 im Jahr 2013, über 3400 im Jahr 2014, fast 3800 im Jahr 2015, über 5000 im Jahr 2016.
Die Rettungsoperationen haben leider ungewollte, tödliche Auswirkungen, weil ein Anreiz geschaffen wurde, mit hochseeuntauglichen Schlauchbooten draufloszufahren. Ein ordentlicher Schutz der Außengrenze samt konsequenter Abschiebung von illegalen Zuwanderern, die nicht Flüchtlinge sind, würde diesen Anreiz stark reduzieren.

So., 22.04.2018 - 17:04 Permalink
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alfred frei So., 22.04.2018 - 11:54

dabei nicht vergessen: "der freie Kapitalverkehr ist nicht nur die jüngste der durch den Vertrag garantierten Freiheiten, sondern auch – wegen seiner besonderen Implikationen für Drittstaaten – die weitreichendste" und bedarf keiner weiteren Rechtsvorschriften der EU oder der Mitgliedstaaten. Hoch lebe die Freiheit der Menschen und ihrer Brieftaschen.

So., 22.04.2018 - 11:54 Permalink