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hier bin ich niemand d. h. ich

Der Journalist Ralf Höller hat Norbert C. Kasers Briefe aus dem norwegischen Stord herausgegeben. Ein Gespräch über Fische als Freunde und über ein frühes "Selfie"
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Foto: Foto: HaymonVerlag

salto.bz: Die Norwegen-Texte Kasers entstanden zwischen dem 13. Juli und 27. September 1970. Wie würden Sie diesen Zeitraum in Kasers Biografie beschreiben?
Ralf Höller: In Wien, wo Kaser vor und nach seinem Norwegenaufenthalt studierte, war es merklich ruhiger geworden um ihn. Der Aufruhr um seine Brixner Rede – in der er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, alle lebenden und toten Südtiroler Autoren in Grund und Boden kritisiert hatte – war abgeebbt; der letzten Gedichtsammlung klampflaute aus der dusteren provinz & weltstadt sollte bis auf weiteres keine folgen. Kaser war auf der Suche: nach neuen Themen, vielleicht nach einer neuen Form der Aussage, vor allem aber nach literarischer Anerkennung.

Vor allem war der – bescheidene – Wohlstand gleichmäßiger verteilt, was Kaser gefiel, und das Streben nach Konsens wie in anderen skandinavischen Gesellschaften stärker ausgeprägt als daheim.

Wie kam Kaser überhaupt auf die Idee, den Sommer 1970 in Norwe­gen zu verbringen?
Kaser verbrachte manchen Abend im Beisl – „meine stammkneipe: brankowsky’s wein- und bierhaus“. Dort lernte er einen norwegischen Medizinstudenten kennen. Frode Ritland verbrachte gerade ein Auslandssemester in Wien. Kaser ließ Ritland gelegentlich in seinem Schrebergartenhäuschen in Wien-Hernals übernachten. Ritland revanchierte sich mit der Einladung nach Norwegen und dem Angebot, kostenlos im Haus seiner Mutter zu wohnen. Kaser nahm an. In erster Linie hoffte der chronisch verschuldete Kaser, in Norwegen etwas Geld verdienen zu können. Die Freizeit wollte er nutzen, um sich literarisch inspirieren zu lassen.

Welches Norwegen hat Kaser im Sommer 1970 vorgefunden?
Das Norwegen, das Kaser kennenlernte, war noch nicht vom Ölreichtum geprägt. Dennoch waren Löhne und Lebensstandard dort um einiges höher als in Österreich oder Südtirol. Vor allem war der – bescheidene – Wohlstand gleichmäßiger verteilt, was Kaser gefiel, und das Streben nach Konsens wie in anderen skandinavischen Gesellschaften stärker ausgeprägt als daheim. Bei so viel Harmoniepflege stellt sich manchmal auch Widerstand ein, gerade bei einem so rebellisch veranlagten Zeitgenossen wie Kaser. Die allgegenwärtige Kirche – in Norwegen mal nicht die katholische –, die kaum bewältigte Vergangenheit – auch in Norwegen hatte es Faschisten gegeben die mit den deutschen Besatzern kollaborierten –, die protestantische Ethik – die den Norwegern die Freude am Vergnügen zügelte –, das alles waren Hürden, die ein zu enges Zusammenkommen Kasers mit seinen Gastgebern verhinderten.

Kaser notiert eine  „wechselnde moewenzahl so zwischen 5 und 12“ und schließt Freundschaft mit einem Fisch im Hafenbecken.

Wie gestaltete sich Kasers Alltag in Stord?
Die ersten Wochen verliefen in etwa wie folgt: Kaser sitzt im Café, bemüht sich, nicht allzu viel Geld auszugeben, und beobachtet das Treiben im nahen Hafen. Da dort nicht allzu viel los ist, hat er auch einen Blick für das Geschehen am Rande. Am dynamischsten geht es noch in der Tierwelt  zu.  Kaser notiert eine  „wechselnde moewenzahl so zwischen 5 und 12“ und schließt Freundschaft mit einem Fisch im Hafenbecken. Nach einem Monat wird er erlöst. Kaser findet einen Job bei der Straßenausbesserung. Langsam erweitert sich der Bekanntenkreis, einige interessante Begegnungen – etwa mit einem Bibliothekar, der ihm die norwegische Literatur näherbringt, oder eine Zahnarzttochter, die ihn von chronischen Schmerzen befreit und gleichzeitig, da er sich in sie verguckt, neue verursacht – resultieren daraus. Richtig Anschluss findet Kaser jedoch nie.

Wie lässt sich Kasers literarische Produktion in Norwegen einordnen?
Was bislang Kasers Gedichte auszeichnete: knappe Form, präzise Aussagen, eigenwilliger Schreibstil mit unorthodoxem Satzbau, gesellschaftlicher  Anspruch, den er bewusst aus der subjektiven Wahrnehmung ableitete und sich somit gegen den plakativ politischen Zeitgeist stellte.
Kaser war alles andere als unpolitisch, vor allem war er authentisch, das zeichnete nun seine Prosa aus. Für den Leser ein Glück: Kasers geschärfter Blick ermöglicht eine Zeitreise zurück ins Jahr 1970.

Auf Seite 97 Ihres Buches über Kaser in Norwegen findet sich ein astreines Selfie. Hat der Dichter in Norwegen viele Fotos von sich selbst gemacht?
Bei dem Foto lässt es sich nicht mit Sicherheit sagen, wo es entstanden ist. Kaserexperte Benedikt Sauer glaubt jedenfalls, es sei nicht in Norwegen gewesen. Kann sehr gut sein, dass er Recht hat. Ich hatte auf die Fotoauswahl nur bedingt Einfluss. Leider gibt es keine weiteren Selbstporträts aus Norwegen, was mich bei Kaser ein wenig wundert.

Hat ihn der Norwegenaufenthalt nachhaltig geprägt?
Ja.
Nein.
Schwierig!
Was seine Prosa betrifft, es folgten ja keine weiteren Gedichtsammlungen, hat er in Norwegen den Stil gefunden, der sich später in vielen Briefen und auch in den Stadtstichen fortsetzte. Für seine Karriere als Schriftsteller konnte Kaser den Norwegenaufenthalt nicht nutzen. Heute hätte er es leichter. Würde er diese Texte an Literatur und Kritik liefern, säße in der Redaktion mit Karl-Markus Gauß ein teilnahmsvoller, Unkonventionellem gegenüber offener und gegen den nivellierenden und unterdrückenden Mainstream gefeiter Herausgeber, der Kasers Texte veröffentlicht und ihm den Weg in die Literatur zu Lebzeiten geebnet hätte. Ein Staatsstipendium nicht erst zwei Jahre vor seinem Tod und ein namhafter Verlag nicht erst posthum hätten vielleicht verhindert, dass Kaser sich in unzähligen Jobs verzetteln musste, um überhaupt seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Was fasziniert Sie an Kaser?
Walter Höllerer hatte Mitte der 1960er Jahre in seiner Zeitschrift akzente einmal 16 Thesen zum langen Gedicht aufgestellt, in dem kein Pegasus wieherte: schmückende Metaphern sollten der Alltagssprache weichen, ganze Sätze darin Platz haben, eigenes Erleben geschildert statt künstlich eine weltfremde Festtagsstimmung erzeugt werden. Höllerers letzte These lautete: das lange Gedicht als Vorbedingung für kurze Gedichte. Hierin was Kaser Meister: In kürzester Form, präziser Sprache, mit kommentierendem Ich Alltagssituationen in Literatur umzuwandeln. Das hat so in der deutschen Nachkriegsliteratur niemand anderer hinbekommen. Ähnliches gilt für seine Prosa, die Stadtstiche etwa oder die Norwegenbriefe. Das ist Reiseliteratur, wie ich sie gerne hätte, ohne dass ich jetzt sofort an diese Orte müsste - aber wenn ich hinführe, würde ich mich mit Kaserlektüre vorbereiten.

Waren Sie noch nie in Stord?
Warum sollte ich? Ich habe doch Kaser studiert! Spaß beiseite: Ich war nicht auf Stord, aber in der Provinz Sunnhordland war ich schon, auch in Bergen und Oslo, am Hardanger- und am Sognefjord. Von Kaser freilich hatte ich damals noch nie was gehört geschweige denn gelesen. Übrigens bin ich wie Kaser per Anhalter unterwegs gewesen.
Wo Sie mich das gerade fragen: Ich hätte schon Lust, nach Stord zu reisen und ein wenig zu forschen, welche Spuren Kaser hinterlassen hat. Vielleicht findet sich ja ein Sponsor.

Norbert C. Kaser, Ralf Höller
hier bin ich niemand d. h. ich
Briefe aus Stord
Haymon Verlag