Politik | Referenda

Die unverstandenen Referenden

Über die Autonomie-Referenda in der Lombardei und im Veneto ist viel geschrieben worden, viel polemisiert, wenig analysiert.

Über die Autonomie-Referenda in der Lombardei und im Veneto ist viel geschrieben worden, viel polemisiert, wenig analysiert. Das mag an einer gewissen Lagertreue der jeweiligen Medien liegen und eben daran, dass die Referenda von der regionalen Regierungspartei Lega Nord aus Polemik gegen die nationale Regierungspartei Partito Democratico initiiert wurden. Nur ein weiterer Akt in der tragikschauren Komödie der inneritalienischen Parteienkonflikte.

Zentraler Kernpunkt der medialen Wahrnehmung ist besagter Artikel 116, der in der italienischen Verfassung schon länger verankert ist, als es den PD als Partei überhaupt gibt. Freilich hielt es die Lega zu Zeiten ihrer Regierungsbeteiligung nicht für notwendig, den Artikel 116 zum Ausbau der autonomen Kompetenzen der Regionen mit Normalstatut zu bemühen. Roberto Maroni ist auf seine Weise höchst konsistent und glaubwürdig, wenn er bekräftigt, es gehe ihm gar nicht um die Kompetenzen, sondern in erster Linie um die dazu nötige finanzielle Ausstattung. Für einen Regenten des finanz- und wirtschaftsstärksten Landes der Nation ist das eine durchaus legitime Forderung, auch wenn es der guten Sache den unschuldigen Charme nimmt.  

Ähnlich reitet Luca Zaia das Argument, keinerlei Spielraum für regionale Eigenverantwortlichkeit zu haben, wenn nicht zuerst der Rubel aus Rom (zurück)rollt. Womit wir beim Henne-Ei-Problem wären. Man kann von der Zentralregierung wohl kaum erwarten, eine Regionalregierung, die sich medial hauptsächlich durch den Mose-Skandal, Anti-Ausländer- und Anti-EU-Sprüchen, sowie wiederkehrender Sezessions-Androhungsexzessen darstellt, in finanzieller Sicht mit Vorschussvertrauen zu befähigen. Andererseits dreht es sich bei Zaias kostspieligen Lieblingsprojekten wie der Pedemontana-Autobahn oder der Weltmeisterschaften in Cortina keinesfalls um Ideen, die sich jemals autonom umsetzen ließen. Für Projekte einer Hausnummer kleiner ist das regionale Engagement etwas weniger ausgeprägt. Wenn doch, ... lässt der nationale PD Zaia genüsslich auflaufen.

Wo konstruktive Politik versagt, bleibt das Polemisieren. Vogliamo diventare come Trento e Bolzano. Über Nacht versteht sich und was Trento und Bolzano kennzeichnet, ist eben diese eine, immer wieder betonte Zahl, dass Trento und Bolzano 90% der Steuereinnahmen selbst verwalten dürften. (Wer diese Zahl anzweifelt, verweise mich auf eine amtliche Webseite, die die Gegendarstellung in benötigter Punktiertheit untermauert. Bei Nichtexistenz wollen wir den nationalen Neid unwidersprochen über uns ergehen lassen.) Also interpretiert Zaia den Artikel 116 populistisch derart um, als sei er der direkte Schlüssel zu den neunzig Prozent für seine und andere Regionen mit Normalstatus und blendet den bekannterweise mühsamen und - volkswirtschaftlich gesehen – hemmenden Prozess des jahrelangen Feilschens um Kompetenzen mit finanzieller Austarierung komplett aus.

Verlass ist hierbei natürlich auf das übliche italienische Parteiengezänk. Just nachdem die Lega Nord die Referenda angekündigt bzw. durchgeboxt hatten, zaubert der PD in der PD-regierten Emilia-Romagna den Hasen aus dem Hut, in dem sie Stefano Bonaccini zeitlich perfekt orchestriert der Welt demonstrieren lässt, wie staatstragende Regenten den besagten Artikel 116 richtig angehen. Die Referenda der Lega lächerlich machend und sich darüber empörend, dass Volksbefragungen Geldverschwendung wären. Welch Überraschung, dass Bonaccini die neu-autonomen Kompetenzen mit Wohlwollen und fast kampflos in den Schoß fallen. Ein Verfassungsartikel ist eben nichts als eine politische Geheimwaffe, die 16 Jahre lang schlummerte und dann zum richtigen Zeitpunkt abgefeuert wurde.

So gesehen sind die Referenda alles andere als inutili. Sie sind eine Möglichkeit, den angestauten Volkszorn zum konstruktiven Ausbruch aus diesem Teufelskreis zu kanalisieren. Die Bevölkerung wird befragt und die Bevölkerung antwortet – aber eben auf ihre Weise. Ein sì ist mitnichten willenlose Unterstützung für die Lega gegen den PD. Ein sì ist eine Botschaft an alle Parteien, ob zentral oder regional. Dabei ist es pures Kaffeesud lesen, ob man die Unzufriedenheit an hoher Wahlbeteiligung ablesen, oder aus dem Fernbleiben den Grad des Disagio ableiten will.

Sicher ist nur eines: die derzeitige italienische Politik, ob jetzt zentral oder regional ist in keinster Weise dazu in der Lage, die volkswirtschaftlichen Lokomotiven Lombardei und Veneto derart zu befeuern, dass sie motiviert die anderen regionalen Wagone übern Berg ziehen könnten. Anstatt sie mit Ehren zu versehen, sie mit ausbalanzierten Rechten und Pflichten zu würdigen, werden sie verspottet und gedemütigt. Das Veneto hat schon lange keinen Minister mehr gestellt. Der Ranghöchste unter ihnen, der ehemalige Bürgermeister der Stadt Belluno, Gianclaudio Bressa, hat sich als PD-Staatssekretär den zweifelhaften Ruf erarbeitet, mit seiner Hinterzimmerpolitik im Dienste Trentino-Südtirols zu stehen, aber jeglichen Autonomiebestrebungen seiner Heimat Prügel zwischen die Beine zu werfen, intrigant und vertragsbrüchig. Ob da magari eine Hidden Agenda mit löblichen Absichten dahinter steht, gehört mangels Transparenz in das Reich der Spekulationen.

Verlierer sind wie immer die Schwächsten. In der Provinz Belluno gibt es Gemeinden, in denen 67% der Wahlberechtigten ins AIRE Register eingeschrieben sind. In dieser Zahl mögen sich PD und Lega noch einmal sonnen, bevor sie sich einmal mehr auf die Schulter klopfen. 67% Prozent in einer Provinz die landschaftlich und kulturell und somit touristisch die gleichen Möglichkeiten hätte, wie die Autonomien in seinem Nordwesten. Wir erinnern uns, bereits vor etlichen Jahren als diverse, Provinzwechsel anstrebende Referenda auf Gemeindeebene die Zentrifugalkräfte auf die Landeseinheit wirkten, wollten die Belluneser zum Referendum rufen; zu einem Referendum mit der Fragestellung, ob denn die ganze Provinz Belluno um Anschluss an die Region Trentino-Südtirol ansuchen sollte. Rom und nicht etwa Venedig hatte damals das Referendum untersagt.

Wir erinnern uns, dass das Bellunese zu Montis Zeiten kommissarisch verwaltet wurde und sich unter der anbahnenden Verfassungsreform an die Abschaffung der Provinzen gewöhnen musste. An das Reformgesetz, das den Namen Graziano Delrios trägt, das der abgeschafften Provinz - weil montanes Grenzland – als „area vasta“  nie näher definierte Sonderbefugnisse zugestand. Das Delrio-Gesetz auferlegte sich selbst nur temporäre Gültigkeit bis zu der großen Verfassungsreform Renzis, die aber mit dem staatsweiten Referendum im Dezember 2016 krachend implodierte; einem Referendum übrigens, in dem sich Südtiroler und Trentiner als welche der wenigen für die Pulverisierung der Provinzen, inklusiver deren von Sondrio und Belluno ausgesprochen hatten. Seit Dezember 2016 herrscht juridisch komplette Unklarheit darüber, ob denn die Provinzen jetzt noch existieren oder doch abgeschafft wurden. Ein Zustand, den ein Staat so wirtschaftsstabil wie Italien ja ohne weiteres seinen Bürgern zumuten kann, ohne dafür auch nur medial gelyncht zu werden.  

Trotzdem wurde das Delrio-Gesetz angewandt, die Provinzregierung nicht wieder hergestellt und statt dessen dürfen die Bürgermeister unter ihresgleichen ein Häufchen Bürgermeister wählen, die für jeweils zwei Jahre die Provinzgeschicke regierungsähnlich und unentgeltlich leiten sollen. Die verantwortungslose Schlamperei bei dieser Architektur wird durch zwei Anekdoten deutlich: Zum Einen verlor die derart zur Provinzpräsidentin erkorene Daniela Larese-Filon deshalb die Präsidentschaft, weil sie in ihrer Heimatgemeinde Auronzo als Bürgermeisterin abgewählt wurde. Somit brachte eine einzelne Gemeinde durch eine ganz normale Gemeindewahl den ganzen Provinzapparat zu Fall. Zum Anderen musste beim anstehenden Referendum erst geklärt werden, ob denn die Bürger und Bürgerinnen überhaupt wahlberechtigt sind. Verfassungsrechtlich dürfen nämlich nur jene zum Referendum schreiten, die auch bei Provinzwahlen wahlberechtigt sind. Wörtlich genommen also nur die Bürgermeister.  

Nun waren die Belluneser in all der Zeit nicht unrührig. Daniela Larese-Filon suchte bei unserer Euregio bzw. unserem EVTZ für eine Beobachterrolle Bellunos an und wurde letztlich durch Geringschätzung seitens unserer drei peinlich berührten Landeshauptleute und Nichterwähnung unserer Medien abgestraft.  Die Autonomisten des BARD ließen sich bei den Regionalwahlen im Veneto 2015 vom PD vertraglich zusichern, dass als Gegenleistung für die Unterstützung der PD-Kandidatin Alessandra Moretti, der PD sich – unabhängig vom Ausgang der Regionalwahlen – dafür verbindlich einsetzen würde, dass in der Provinz Belluno wieder das allgemeine „direkte“ Wahlrecht bei Provinzwahlen eingeführt werden sollte. Die Bevölkerung wusste bereits damals, dass ein derartiges Übereinkommen, grad weil auch mit Bressas Namen unterschrieben, das Papier nicht wert war. (44% Wahlbeteiligung und Totaldebakel für BARD/PD) In rückblickender Beurteilung hat sich das mehr als nur bestätigt.

In Folge trat Bressa in Erscheinung, um den Provinzwechsel der Gemeinde Sappada/Plodn in Richtung Friaul zu vereiteln, setzte angeblich die Provinzratsbürgermeister (oder wie man die jetzt halt nennt) unter Druck. Bressa applaudierte den Bellunesern für den Plan, dieses Autonomie-vom-Veneto-Referendum abzuhalten, in froher Hoffnung, es würde Luca Zaia und dessen Referendum schaden. Er prallte dann aber ab, als Zaia relativ souverän mit Konsistenz reagierte: Wenn dem Veneto Autonomie zusteht, wie könnte das Veneto dem Bellunese dann Autonomie verweigern, und prompt seine Einwilligung gab. (Das Kompliment muss man übrigens auch dem römischen PD weiterleiten, die die Referenda trotz angeblicher Inutilità rechtlich gewähren lässt.) Zaia ist auf dieser Linie durchaus geradlinig. Bereits vor fünf Jahren ließ er in das Statut Venetiens autonome Rechte für die Belluneser verbriefen, nur – und da schließt sich der Kreis – wurden diese niemals aktiviert, mit der sowohl scheinheiligen wie auch richtigen Begründung, dass der Staat der Region dafür nicht genügend Mittel zur Verfügung stellt. Erst kürzlich wurde diese These für Italien generell von Delegierten des Europarats bestätigt. Mit „Mittel“ sind natürlich wieder die Finanzen gemeint. Autonomie hat einen Preis. Und der Eiertanz geht weiter.

Wie auch immer die nicht-bindenden Referenda ausgehen werden, und wie unsinnig sie im juridischen Sinne beurteilt werden, es sei davor gewarnt, sie politisch zu unterschätzen oder sie als Ankerpunkt für künftig konstruktivere Politik zu verkennen. Und diese Warnung geht auch und grad nach Bozen und Trient.