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Nicol, ein Wintermärchen

Vergangene Woche ging in Gröden ein kleiner Stern am italienischen Sporthimmel auf. Ein Porträt der Wolkensteiner Skifahrerin Nicol Delago.
Delago, Nicol
Foto: fisi
Es hallte ein kleiner Urschrei an jenem Dienstag Mittag durch Gröden. Ein Urschrei der Freude, gefolgt von einem Strahlen der Erleichterung. Gerade ist Nicol Delago über die Ziellinie gefahren, 14 Hundertstel hinter der Slowenin Ilka Stuhec. Als Zwischenergebnis reihte sich die junge Grödnerin auf den zweiten Platz ein – den Platz auf dem Podium, den sie an diesem Tag nicht mehr verlassen sollte. Ein kleiner Stern am italienischen Sporthimmel war eben aufgegangen – bei einem Rennen, das gar nicht stattfinden sollte. 
 
Die Saslong, allseits bekannt für die Abfahrten der Herren, war nur ein Ausweichtermin für die Speed-Damen, sollten sie doch eigentlich in Val d’Isère starten. Doch in Frankreich beklagte man sich über Schneemangel, ein Start der Rennen war aussichtslos. Und diese kleine Wendung des Schicksals führte dazu, dass Delago nun ihr ganz eigenes Märchen schreiben konnte: An dem Ort, wo für sie alles begann.
 
Gerademal zwei Jahre alt war Klein Nicol, als sie Vater Norbert erstmals am Monte Pana auf die zwei Bretter stellte. „Unser Vater hat meiner Schwester und mir die Leidenschaft für das Skifahren in die Wiege gelegt. Er hat uns schon sehr früh die Piste hochgebracht. Seitdem ist der Sport ein Teil von mir“, erzählt Delago salto.bz. 
Zwar war es in diesem zarten Alter noch eher unwahrscheinlich, dass Nicol die Saslong runterpflügt, dennoch verbindet sie die Piste mit ihrer Kindheit, ist sie doch nicht unweit davon aufgewachsen. 
 
Aufgewachsen in einer Familie, in der der Skisport eine besondere Rolle einnimmt, war der zu beschreitende Pfad schon prädestiniert. Vater Norbert ist Skilehrer, Onkel Oskar und Tante Karla waren selbst Weltcupfahrer. Und auch das um ein Jahr jüngere Schwesterchen Nadia erklimmt mit kleinen Schritten den Skiolymp. Gerade Nadia, die sich mit ihren zwei Siegen im Europacup in Zauchensee für die Weltcup-Mannschaft qualifiziert hat, nimmt eine besondere Rolle ein: „Es ist etwas wunderbares, eine Schwester zu haben, mit der man eine Leidenschaft teilt. Wir treiben uns an, wir motivieren uns – es ist ein Privileg, so jemanden an der Seite zu haben.“ 
 
Diese tiefe Dankbarkeit zeichnet die junge Wolkensteinerin aus. Spricht man mit ihr, spricht sie wenig über ihre Errungenschaften, über ihre Erfolge und über ihre Fähigkeiten – es sind die anderen, denen denen sie Tribut zollt, die ihre Erfolgsgeschichte mitschreiben: „Ich muss mich bei so vielen bedanken. Ich hatte immer die richtigen Menschen an meiner Seite: Meine Familie, die mir alles ermöglicht hat und hinter mir steht; meine Mannschaft, mein Trockentrainer Günther Taschler und mein Förderer Karl Heinz Goller.“ Gerade letztgenannter nimmt eine besondere Rolle in der Welt der Skifahrerin Nicol Delago ein.
 
Goller nahm Delago im Skiclub Gröden unter seine Fittiche und begleitete sie, bis schließlich der Ruf in den Landeskader folgte. „Heinz war in den wichtigen Jahren dabei. Er hat mir den Weg gewiesen, er zeigte mir, wo es hingeht. Er ist gefühlt unendlich lange an meiner Seite.“ Goller selbst hatte seinen Schützling eigentlich im Slalom gesehen. Tatsächlich fuhr sie ihre ersten Erfolge in jungen Jahren in den Technikdisziplinen ein. „Sie war ja sogar Italienmeisterin im Slalom. Als sie dann die Speed-Disziplinen für sich entdeckt hat, war ich anfangs nicht so begeistert“, erinnert sich Goller bei salto.bz. „Ich wollte eher Technik trainieren. Ich versuchte, sie ein wenig zurückzuhalten. Aber sobald sie auf den Geschmack der Abfahrt und den Super-G gekommen ist, gab es kein Halten mehr.“
 
Jahr für Jahr arbeitete sich Nicol näher an die Spitze heran. „Ich hatte das Glück, immer in meinem Umfeld bleiben zu dürfen. Ich besuchte die Sporthochschule in Gröden, trainierte in Gröden, lebte in Gröden. Ich konnte inmitten meines vertrauten Umfelds wachsen, das war ein sehr wichtiger Faktor.“ – Bis schließlich der Ruf in den Nationalkader folgte. Unter der Flagge der „Fiamme Gialle“ fuhr sie ein Jahr im C-Kader und zwei Jahre im B-Kader. In jener Zeit schauten zwei Bronzemedaillen bei den Junioren-Weltmeisterschaften in Hafjell 2015 und Sochi 2016 heraus. Am 24. Jänner 2015 war es dann soweit: der erste Start bei einem Weltcup-Rennen. Bei der Abfahrt in St. Moritz gab es noch keine Punkte, am Ende hieß es Platz 43. Es sollte der letzte Auftritt auf der ganz großen Bühne für die Saison bleiben. Fast ein Jahr später, im Dezember 2015, startete sie in Val d’Isère, wo sie auch ihre ersten Punkte einfahren konnte. 
 
In kleinen Schritten entwickelte sie sich Rennen für Rennen weiter, arbeitete hart und konnte so in den Endrankings immer weiter nach oben klettern. Durch diese kleinen Schritte kam es dann ganz Dicke: Saison 2018/2019, in Lake Louise wartet die zweite Abfahrt eines langen Speed-Wochenendes. Als beste Italienerin fuhr Delago bei der ersten auf den 19. Platz – nicht unbedingt ein Statement dafür, dass am Tag danach richtig angegriffen wird. Nichtdestotrotz fuhr sie letztendlich ihr bis dato bestes Ergebnis ein: Mit 73 Hundertsteln Rückstand auf die siegreiche Österreicherin Nicole Schmidhofer und nur 10 hinter US-Skiwunder Mikaela Shiffrin erreichte Nicol Delago den fünften Platz. Man vernahm langsam: Hier bahnt sich etwas an. 
 
Dann ging alles Schlag auf Schlag. Wegen schlechter Schneeverhältnisse in Frankreich werden die Abfahrt und der Super-G der Damen erstmals auf der Saslong ausgerichtet, dem Kinderzimmer der Wolkensteinerin. "Ich konnte es anfangs gar nicht glauben. Ich musste es mir erst einmal von mehreren Personen bestätigen lassen. Auf einmal gibt es für mich ein Heimrennen; auf einer Piste, auf der ich sozusagen aufgewachsen bin. Ich wohne gleich daneben, das ist ein Traum." – Die Begeisterung und Freude konnte man in der salto-Redaktion förmlich durch den Hörer spüren. Gerade eine Woche nach ihrem persönlichen Karrierehöhepunkt war das nächste Highlight mit Ansage im Kalender eingetragen.
 
Der Rest ist Geschichte. 
„Ich wollte mich langsam heranarbeiten. Das es so schnell mit dem Podium etwas wird, hätte ich nicht gedacht.“ Sogar einige Tage nach ihrem Traumlauf kann Delago ihre Leistung kaum glauben, noch nicht richtig einordnen. „Und dass meine Schwester dann auch noch so gut abgeschnitten hat, hat das ganze abgerundet.“ 
 
Der Ort, an dem sie aufgewachsen ist. Der Ort, an dem sie das erste Mal mit dem Skifahren begann. Der Ort, an dem sie ihre ersten Trainingseinheiten abhielt. Und nun der Ort, wo sie ein neues Selbstverständnis als Skifahrerin entwickelt hat. Der Ort, an dem für Nicol Delago wieder alles beginnt.