Politica | Geschichte

Hat die Option ein Geschlecht?

Die Historikerin Elisa Heinrich beleuchtet in ihrem Beitrag die Handlungsräume von Frauen und Männern während der Südtiroler Option.

Welche Relevanz hat die Kategorie Geschlecht in den Erinnerungen von heute lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen an die Südtiroler Option? Auf Basis von 70 leitfadenorientierten Interviews, die im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Erinnerungsgeschichte an die Option an der Universität Innsbruck durchgeführt wurden, wird in diesem Artikel der Frage nachgegangen, ob Frauen und Männer diese politische Umbruchszeit unterschiedlich erlebten bzw. ob sie diese unterschiedlich erinnern. Mit welchen geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen waren sie konfrontiert und wie wurde mit diesen umgegangen? Welche Bedeutung nahmen politische Vorgänge im Alltag von Frauen und Männern ein? Und welche Handlungsoptionen ergaben sich für Frauen, obwohl sie in vielen Fällen formal von der Optionsentscheidung ausgeschlossen waren?

Denn Frauen und Männer waren eben nicht in gleichem Maße optionsberechtigt. So durften zwar volljährige, unverheiratete und gerichtlich geschiedene Frauen selbständig optieren, ebenso Witwen und Frauen, die nicht mit ihrem Ehemann zusammenlebten und finanziell nicht durch ihn erhalten wurden. Verheiratete Frauen allerdings waren an die Entscheidung des männlichen Haushaltsvorstandes gebunden, der für die Ehefrau und eventuell vorhandene minderjährige Kinder mitabstimmen konnte. In der bisherigen Forschung wurde der Anteil der wahlberechtigten Frauen als relativ gering angenommen. Neueste Untersuchungen einzelner Gemeinden zeigen allerdings, dass der Anteil optionsberechtigter Frauen möglicherweise höher war als bisher angenommen. Dennoch ist der gesellschaftliche Kontext, in dem die Option als politisches Ereignis stattfindet, als stark geschlechterhierarchisch zu werten. Bereits seit der Machtübernahme des faschistischen Regimes war es auch in Südtirol zu einer Verschärfung geschlechterdichotomer, patriarchaler Vorstellungen gekommen. Sowohl die faschistische Entnationalisierungspolitik als auch die Kontrapropaganda der deutschen Sprachgruppe war auf eine starke Betonung und symbolische Aufladung der Rolle der Mutter angelegt. In der Gruppe der deutschsprachigen SüdtirolerInnen kam eine Symbolisierung der Mutter als primäre Bewahrerin von Sprache und Kultur hinzu, was besonders in der Rolle der ‚Katakombenlehrerinnen‘ deutlich wurde. Die ohnehin durch den großen Einfluss der katholischen Kirche in Südtirol sehr ausgeprägte Geschlechterhierarchie wurde weiter verstärkt, die Rolle der Mütter noch weiter ideologisch aufgeladen.

Obwohl nun Frauen im Jahr 1939 in vielen Fällen nicht eigenständig zur Option zugelassen waren, zeigte sich in den von uns durchgeführten Interviews, dass sie genauso wie Männer in Diskussions- und Entscheidungsprozesse involviert und an Auseinandersetzungen über die bevorstehende Wahl, die möglichen Vor- und Nachteile einer Auswanderung und die politischen Hintergründe beteiligt waren. Die Gespräche mit den ZeitzeugInnen machten deutlich, dass es für Frauen wie Männer gleichermaßen notwendig wurde, sich mit politischen Zusammenhängen und Veränderungen sowie den daraus für die eigene Lebensrealität resultierenden Konsequenzen zu befassen. 

Ein anschauliches Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Beschreibung der Mutter, die in den meisten Interviews eine Rolle spielt, da viele der von uns befragten ZeitzeugInnen zur Optionszeit jünger als 18 Jahre alt waren und damit die Einstellungen, Debatten und Entscheidungen der Elterngeneration starken Einfluss auf die eigene Wahrnehmung hatten. Obwohl viele der ZeitzeugInnen in vergleichbarem sozialen, wenn auch ökonomisch unterschiedlichem Umfeld, meist im ländlichen Raum aufwuchsen und – bis auf einige Ausnahmen – eine größere Anzahl an Geschwistern hatten, sind die Darstellungen der Mütter und ihrer Rolle im Entscheidungsprozess sehr divers. Manche Mutterfigur erscheint als ‚Bewahrerin‘, die die Heimat nicht verlassen, sich und ihre Familie einer solchen Veränderung mit unbekannten Konsequenzen nicht aussetzen will. Elisabeth Plattner Hafner, Jahrgang 1925, etwa beschreibt ihre Mutter im Kontext der Optionsentscheidung mit den folgenden Worten: „Meine Mutter hat immer gesagt – der Vater hat damals nicht mehr gelebt, – sie hat gesagt, ihr könnt alle tun wie ihr wollt – ich wähl nicht und ich geh auch nicht weg von da, außer wenn sie mich wegtragen.“
Frau Hafners Mutter hebt sich von anderen Beschreibungen ab, weil sie ihren Wunsch ‚dazubleiben‘ nicht innerhalb der Optionsentscheidung austragen will, sondern sich generell konsequent weigert, die ihr aufoktroyierte Entscheidung zu treffen, da sie diese für unsinnig hält. Dass sie schließlich am Silvestertag 1939, also am letztmöglichen Tag der Abstimmung, unter großem Druck durch ihren Bruder und die für sie arbeitenden Knechte doch für Deutschland optiert, und daraufhin den ganzen Neujahrstag nicht aus dem Bett aufsteht, lässt ihre Position nicht weniger konsequent erscheinen.
Andere Mütterfiguren werden als Motor für die Auswanderung oder sogar als „ausgesprochener Nazi“ bezeichnet; sie werden demnach als Frauen vorgestellt, die sich innerhalb der Familie für ein Optieren für Deutschland, in einigen Fällen auch für das Auswandern, stark machen, zum Teil eben gerade aus pro-nationalsozialistischen Motiven. Die Zeitzeugin Theresia Sanin, Jahrgang 1930, wiederum erinnert sich daran, dass ihre Mutter einem Nachbarn kurz vor Ende des Krieges zuredet, er möge sich verstecken und nicht mehr einrücken, da der Krieg bald vorbei sei, und entwirft damit ein Bild ihrer Mutter als weitsichtig und den anderen DorfbewohnerInnen ein Stück voraus. Eingebettet ist diese Erzählung in die Erinnerung an den Eindruck, den die deutschen Besatzer auf Frau Sanin und ihre Mutter machten: „Wir haben es ein bisschen als lächerlich empfunden, wenn sie - sagen wir – da als Befreier gefeiert worden sind, wo man, wir haben schon gedacht, der Krieg ist verloren, nicht? Soweit hat man gedacht, dass der Krieg verloren ist, oft einmal auch ein bisschen Schwarzhörer gehört, nicht, und dann wie die Frauen halt den deutschen Soldaten nachgerannt sind und so, das hat man schon ein bisschen als lächerlich empfunden. Und auch das ‚der deutsche Typ‘ dann auf einmal gewesen ist. Zu mir haben sie dann auch gesagt –  weil ich hab ein rötliches Haar gehabt und eben die dunklen Augen und die weiße Haut – und dann hat einmal jemand gesagt ‚du bist ein richtiger germanischer Typ‘, nicht, so kindisch die Sachen oft im Dorf.“
Dieser Interviewausschnitt ist bedeutsam, weil hier relativ explizit politische Positionen sichtbar werden: Sowohl der Hinweis auf das Hören des ‚Schwarzsenders‘ als auch die angedeutete Erhabenheit, die Frau Sanin in der Erzählung den deutschen Besatzern und jenen gegenüber, die ihnen ‚nachrennen‘, einnimmt, machen sichtbar, auf welche Weise die Zeitzeugin – zumindest im Nachhinein – ihren Alltag für sich und ihre Mutter politisch interpretierte und eine politische Meinung zu den Ereignissen entwickelte.

Für die Zeitzeugin Regina Stockner, die im Jahr 1939 dreizehn Jahre alt ist, kann dies in noch deutlicherem Maß festgestellt werden. Frau Stockner verbindet in dieser Zeit eine enge Freundschaft mit dem einzigen anderen Mädchen aus ihrem Dorf, das mit ihr gemeinsam täglich Milch in die nächstgelegene Stadt trägt, um sie an verschiedene Haushalte zu verteilen. Paula, die bei Zieheltern aufwächst, die für Italien optieren, und Frau Stockner, deren Familie „deutsch“ bleiben will, also eine Option für Deutschland favorisiert, diskutieren bei der Arbeit häufig über die Option. Die Zeitzeugin wählt in diesem Zusammenhang sogar mehrmals das Wort „politisieren“. Bemerkenswert ist, dass Frau Stockner das Verhältnis zu ihrer Freundin und die Diskussionen, die ihre Freundschaft im entsprechenden Zeitraum prägen, eigenständig erinnert. Obwohl ihre Eltern und Paulas Zieheltern sich über die Option austauschen und gegenseitig von der jeweils eigenen Position überzeugen wollen, ist die politische Auseinandersetzung eine, die in der Erinnerung der Zeitzeugin zwischen ihr und Paula stattfindet. Über die Diskussionen innerhalb der Familie sagt Frau Stockner „Wir haben uns nicht entscheiden können.“ und schließt sich damit in die Entscheidungsfindung selbstverständlich mit ein, statt sie an die Eltern oder den Vater zu delegieren.
In anderen Zusammenhängen werden die Handlungsräume sichtbar, die das Mädchen bzw. die junge Frau für sich in Anspruch nimmt, wenn sie mit Zuschreibungen aufgrund ihres Geschlechts konfrontiert wird. So berichtet sie davon, dass Paula und sie auf dem Heimweg nach dem Milchaustragen regelmäßig von einer Gruppe Arbeiter belästigt wurden („die sind uns immer nach“). Um den Männern nicht allein begegnen zu müssen, vereinbarten die Freundinnen deshalb einen Platz in der Stadt, um sich dort zu treffen und den Heimweg gemeinsam anzutreten. Dass die Mädchen den aufdringlichen Männern gelegentlich aber auch Paroli boten, wird in dieser Aussage deutlich: „Und die Paula, die ist ganz eine Schneidige gewesen, einmal sind sie uns halt doch nach. Die hat dann einen großen Stein aufgehoben und hat getan als wie wenn sie ihn ihnen raufschmeißen würd. Die sind durch! Das hat uns dann gefallen, dann haben wir wieder Schneid gekriegt.“ Dass Frau Stockner die an sie als junge Frau herangetragene, sexualisierte Rolle nicht akzeptiert, wird auch in der Erzählung über ein versuchtes Zusammentreffen der Familie mit der ausgewanderten Großmutter auf dem Brenner deutlich. Die Großmutter war noch vor dem Rest der Familie nach Nordtirol ausgewandert, war dort aber recht unglücklich, weshalb ein Zusammentreffen mit dem noch in Südtirol lebenden Teil der Familie auf dem Brenner vereinbart wurde. Die Zeitzeugin erzählt, dass sie statt ihres Vaters mitgefahren sei, weil sie als Einzige Italienisch gesprochen habe. Am Brenner sei man allerdings durch Grenzschranken so weit von einander entfernt gestanden, dass eine Verständigung unmöglich gewesen sei. Frau Stockner berichtet nun in diesem Zusammenhang: „Nachher haben die Grenzbeamten gesagt, wenn ich hinunter gehe in das Büro von den Grenzleuten und den Brigadier persönlich frage, wenn derjenige es erlaubt, dann dürfen wir halt hinübergehen. Also bin ich hinunter. Dort war ein ganzer Raum voller Männern, die mich nur zum Narren gehalten haben. Ich bin ja erst vierzehn Jahre alt gewesen. Und dann hat einer gesagt, ‚se mi dai un bacio‘, dann darf ich hinüber gehen. Ja, dann bin ich aber zornig gewesen. Dann war halt nichts mit rübergehen.“
Dieser Ausschnitt aus den erzählten Erinnerungen Frau Stockners ist nicht nur ein eindrückliches Beispiel für die Lebenssituation einer jungen, deutschsprachigen Südtirolerin während der Optionszeit, sondern zeigt auch gerade die individuelle Deutung und den kritischen Umgang mit den an sie herangetragenen geschlechtsspezifischen Rollenanforderungen.

Als Schlussfolgerung kann an die wichtigen Arbeiten der beiden Historikerinnen Martha Verdorfer und Sabine Schweitzer anschließend festgehalten werden: Wenn auch Männer in höherem Maße die formale Entscheidung der Option treffen konnten, so wurde doch die Umsetzung dieser Entscheidung, insbesondere wenn sie in eine Umsiedlung mündete, mehrheitlich von Frauen getragen. Die Vorbereitungen zur Abreise, die Abwicklung von Möbeltransporten, die verschiedentlichen logistischen, aber auch sozialen Anforderungen bei der Ankunft in der ‚neuen Heimat‘ fielen in den Handlungsbereich von Frauen. Ebenso oblag ihnen häufig die oft komplizierte Kommunikation zwischen Teilen der Familie, die (noch oder bereits) an unterschiedlichen Orten wohnten, sowie die Planung und Abwicklung von Treffen auf der Brennergrenze oder illegalen Grenzübergängen. Demnach ist die Praxis der Umsiedlung als mehrheitlich von Frauen geprägt zu fassen. Aber nicht nur das: wie bereits angeklungen ist, würde sich wohl ein erneuter Blick in die Gemeindearchive lohnen, da hier vielleicht noch Überraschungen in Bezug auf die Entscheidungskompetenzen von Frauen in dieser politischen Umbruchphase möglich wären.

Ein weiteres, wichtiges Ergebnis stellt die Diversität der Handlungsspielräume dar, die Frauen zur Verfügung standen und die sie entlang oder entgegen der an sie gestellten Rollenanforderungen als Mütter, Töchter, Freundinnen und Ehefrauen nutzten oder nicht. Es zeigte sich, dass das populäre Narrativ der von der Entscheidung ausgeschlossenen, oft an den Zusammenhängen uninteressierten Ehefrau und Mutter, die den möglichen Verlust der Heimat still beweint, in den Erinnerungen der interviewten ZeitzeugInnen ebenso oft vorkommt wie das diesem Narrativ entgegengesetzte Motiv. 

Die in den Interviews wiedergegebenen Lebensbedingungen und –möglichkeiten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sollten also nicht einfach auf geschlechtsspezifische Unterschiede hin abgeklopft werden. Zentral ist vielmehr die Frage, welche Möglichkeiten einer Person in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld (auch aufgrund ihres oder seines Geschlechts) offen standen und auf welche Weise sie oder er diese Möglichkeiten dann nutzte. Mithilfe eines solchen Zugangs lässt sich nicht nur etwas über die einzelne Biographie der Zeitzeugin bzw. des Zeitzeugen aussagen. Es wird darüber hinaus möglich, den historischen und gesellschaftlichen Kontext, in dem diese Person gelebt, gedacht und gehandelt hat, besser zu verstehen. 

Eine ausführliche Version dieses Artikels erscheint unter dem Titel Option – Geschlecht – Erinnerung. Genderspezifische Handlungsräume in der Erinnerung von ZeitzeugInnen an die Südtiroler Option 1939 in Eva Pfanzelter (Hg.), Option und Erinnerung, Geschichte und Region/storia e regione 2013 (Heft 2).
Weitere Forschungsergebnisse finden sich auf der Projekthomepage www.optionunderinnerung.org