Kultur | Lesung

Lesung mit Zeitzeugen: "Mörderische Heimat"

Die Vereinigten Bühnen Bozen und das Jüdische Museum Meran laden zu einem Erzählcafé im Rahmen der Lebensgeschichten aus dem Buch "Mörderische Heimat".

Im Jänner 2015 wurden in der Bozner Innenstadt 10 Stolpersteine verlegt, die an die deportierten jüdischen Familien aus Südtirol erinnern sollen. Auch in Meran gibt es diese Steine, die nicht größer sind als normale Pflastersteine, jedoch mit einer Messingplatte versehen und mit dem eingravierten Familiennamen der in den Konzentrationslagern Nazideutschlands Ermordeten. 

Vom Schicksal dieser Menschen, den Familien Tauber, Schwarz, Castelletti, Götz, Carpi oder Löw Cadonna handelt auch das Buch "Mörderische Heimat - Verdrängte Lebensgeschichten in Bozen und Meran" der beiden Autoren Sabine Mayr und Joachim Innerhofer. Das Buch "dokumentiert die vielseitigen Äußerungsformen des in Südtirol tief verwurzelten Antisemitismus. Südtirols NS-Opfer hatten ihre Heimat geliebt und wichtige Beiträge in der Medizin, Wirtschaft und im Tourismus geleistet. Das Aufzeigen der Spuren jüdischen Lebens in der Geschichte Südtirols lässt ihnen eine späte Anerkennung zuteilwerden."

Am Dienstag, 5. Mai laden die Vereinigten Bühnen Bozen und das Jüdische Museum Meran als Herausgeber zu einem Erzählcafé mit Angehörigen der Familien und Historikern. Mit dabei sind neben den beiden Autoren, Ruth Halonbrenner (Schweiz, geboren 1945), Tochter des letzten Präsidenten der jüdischen Gemeinde vor der Schoah Josef Bermann, Roberto Furcht, Präsident von Furcht Pianoforti in Mailand, Michael Breuer (Israel), Enkel des kaufmännischen Direktors der jüdischen Gemeinde Wilhelm Breuer, der mit seiner Frau Katharina am 16.09.1943 aus Meran deportiert wurde, Hannes Obermair, Stadtarchiv Bozen sowie Peter Langer, Bruder des Politikers Alexander Langer. Wir veröffentlichen aus diesem Anlass einen Kapitelausschnitt aus dem Buch:

 

„Gott soll geben, dass die Zores bald ein Ende nehmen“

„Die Familie Breuer ist vor dem Ersten Weltkrieg nach Meran gekommen“, erklärt Michael Breuer. „Mein Großvater war der ,Chief Manager‘ der jüdischen Gemeinde in Meran. Seine Eltern sind mit nach Meran gezogen. Der Grund, weshalb sie von ihrer Heimat fort sind und nach Meran gezogen sind, hatte mit einer bedrohlichen Situation in der Gegend zu tun, aus der sie kamen, wurde uns erzählt.“ Michael Breuers Großvater väterlicherseits war Wilhelm Breuer. Dieser hatte neun Geschwister, gleich wie Michael Breuers Großvater mütterlicherseits, der Julius Regner hieß. Beide waren ungarische Oberländer. Wilhelm Breuers Geburtsort lag im nördlichen Donauhügelland in der Nähe des bekannten Heilbads
Piešt’any und trug damals den ungarischen Namen Tóth Soók oder den deutschen Salgovitz. Das Gebiet nahe der Stadt Topol’cˇany am Nitra wurde mit dem Friedensvertrag von Trianon vom 4. Juni 1920 der neu gegründeten Tschechoslowakei zugesprochen. Topol’cˇany war die Sommerresidenz von Präsident Tomás Masaryk und eine Hochburg des jüdischen Glaubens. Zu der wirtschaftlichen Entwicklung hatten auch hier jüdische Kaufleute wesentlich beigetragen und auch hier kam es zu einem rasanten Anstieg des Antisemitismus, als sich
im 19. Jahrhundert der Nationalismus zu verbreiten begann. Juden wurden als „Fremde“ angesehen, die antislowakisch eingestellt seien und die, laut damaliger – nach der Wende des Jahres 1989 neu belebter – Vorurteile, über eine Übermacht in Politik und Wirtschaft verfügen würden.

Tóth Soók hatte größtenteils katholische Einwohner, dennoch gab es in dem Ortauch eine Synagoge. Hier wurde Wilhelm Breuer am 4. Mai 1871 geboren. Am 21. Februar 1899 heiratete er in Ungerreigen (ungarisch Magyarfalva), der heutigen westslowakischen Gemeinde Záhorská Ves an der March (slowakisch Morava), Katharina Robitschek. Katharina wurde am 10. Juni 1875 als Tochter von Anna Feiertag und des Schuhmachermeisters Leopold Robitschek in Wien geboren.153 Die Familie ließ sich im Wiener Bezirk Ottakring nieder, wo Wilhelm Breuer,
der auch auf Ungarisch Vilmos genannt wurde, als Kaufmann tätig war. Die damalige Adresse lautete Neulerchenfelderstraße 86. Am 6. September 1900 wurde in Wien ihr erster Sohn Leopold geboren. Am 16. Dezember 1902 wurde Otto Breuer geboren. Am 9. August 1906 folgte als dritter Sohn Fritz Breuer. Damals wohnte die Familie in der Oberen Donaustraße 12 im zweiten Wiener Gemeindebezirk. 

Ab 1908 lebte Wilhelm Breuer mit seiner Familie in Meran. Hier kam am 6. September 1909 Edmund Breuer zur Welt. Im Jahr 1909 war Wilhelm Breuer Geschäftsleiter der Mode- und Konfektionshandlung von Illes Eisenstädter, der, 1868 in Stadtschlaining geboren – das Burgenland gehörte bis 1921 zu Ungarn –, selbst auch ein jüdischer Kaufmann ungarischer Herkunft war, schon länger in
Meran lebte und am Rennweg Bekleidung und Kurzwaren verkaufte. Am 21. Juli 1917 kaufte Illes Eisenstädter das Hotel Sonne am Meraner Rennweg, in dem er im Erdgeschoß seine Konfektionswarenhandlung einrichtete und dessen Hotel und Restaurantbetrieb sein Sohn Heinrich nach Illes’ Tod am 18. Juni 1934 weiterführte. Am 19. Dezember 1935 musste Heinrich Eisenstädter den Konkurs seines Modegeschäfts
anmelden, und das Hotel Sonne wurde verkauft. Zu jener Zeit war Wilhelm Breuer längst nicht mehr für Eisenstädter tätig. Bereits 1912 hatte er sich als Handelsagent selbstständig gemacht. Die Familie Breuer wohnte zunächst in der Landstraße 16, ab 1912 am Lazagsteig 107 und ab 1921 für einige Jahre in der Starkenhofgasse 3 (heute Mühlgraben). An derselben Adresse führte Wilhelm Breuer seine Handelsagentur für Konfektionswaren, Schuhe, Wäsche und Stoffe.

Die Familie Breuer war sehr um das jüdische Leben in Meran bemüht und half, wo Hilfe nötig war. Ab 1929 war Wilhelm Breuer, der 1921 in den Meraner Heimatverband aufgenommen wurde, bei der jüdischen Gemeinde als kaufmännischer Direktor angestellt und richtete als solcher neben der Buchführung ein besonderes Augenmerk auf die Friedhofsverwaltung. Wenn das Sekretariat im Juli und August nur eingeschränkt offen war, blieb Wilhelm Breuer für dringende Fragen und Notfälle an seiner Privatadresse stets erreichbar. Ab Anfang der 1930er-Jahre lebten Wilhelm und Katharina Breuer im Erdgeschoß des Hauses in der Rupertstraße 2. Dort wohnten im ersten Stock die jüdischen Stoffhändler Max Birnbaum und Max Cohn und im zweiten Stock die aus Polen gebürtige Kauffrau Deborah Stützel, geborene Baum, und später auch der Berliner Konfektionswarenhändler Gustav Glück mit seiner Familie.

Anfang Oktober 1929 übersiedelte Leopold Breuer, der in einem Meraner Hotel als Sekretär gearbeitet und dazwischen immer wieder in Wien gelebt hatte, erneut nach Wien, wo er in der Liechtensteinstraße 134 wohnte und am 24. Oktober 1929 starb. Otto Breuer absolvierte seine Lehrzeit in der Manufakturwarenhandlung von Mayer Stützel und arbeitete 1923 im Speditions-, Bank- und Kommissionsunternehmen
Rüdiger & Co. in der Wiener Innenstadt. Am 10. August 1932 erteilte ihm die Gemeinde Meran die Handelslizenz für den Vertrieb von
Konfektionswaren für Männer, die Otto Breuer in seinem Geschäft im Meraner Raffl-Haus verkaufte. Doch hielt es ihn nicht lange in Meran. Am 1. September 1933 meldete er seinen Handel am Meraner Domplatz ab. Am 7. Januar 1934 heirateten Otto Breuer und Blanka Regner in Wien. Sie wohnten in der Klosterneuburgerstraße 21 im zwanzigsten Bezirk.157 Blanka Regner wurde 1908 als Tochter von Hermine Kreilisheim und Julius Regner in der Wiener Malzgasse 2 geboren. Ihr Vater Julius oder Gyula Regner, 1879 in Ungarn geboren, und seine Frau Hermine, 1884 in Pressburg geboren, waren nach Wien gezogen, wo Julius Regner ein Lebensmittelgeschäft führte und 1907 Blankas Bruder Otto geboren
wurde. In Wien kam 1934 Ottos und Blankas Sohn Paul zur Welt.

„Mein Großvater Julius Regner hat gespürt, dass Hitler vorhatte, nach Wien einzumarschieren, und hat schon Monate vor dem Anschluss sein Geschäft in der Leopoldstraße im zweiten Bezirk verkauft. Er war Zionist. Er hat die ganze Familie nach Meran geschickt und ist alleine noch in Wien geblieben, wo er zwei große Speditionen organisiert hat. Als Adresse für die zwei Lifts hat er nur ,Palästina – Regner‘ angegeben, und das hat funktioniert. Sie sind zuerst nach Triest und dann von dort weiter nach Haifa gegangen. Darauf ist mein Großvater auch nach Meran abgereist, wo schon die ganze Familie versammelt war und insgesamt ein Jahr lang geblieben ist.“ Blanka, die im Juli 1938 in Meran eintraf, habe sich später nicht gern an Meran erinnert und kaum von dieser Zeit gesprochen. Der Kummer darüber, was ihrer Familie angetan wurde, ließ nicht zu, dass sie später wieder einen Fuß in diese Stadt gesetzt hätte. Die Aufforderungen ihres Sohnes blieben vergeblich und ernteten die gestisch untermalten Worte: „Du bist ja verrückt!“ Nur an wenige Begebenheiten in Meran, über die in der Familie erzählt wurde, kann sich
MichaelBreuer erinnern. „Einmal hat es in Meran ein großes Kantorentreffen gegeben. Um die Stimme für die Gesänge während der hohen Feiertage um Jom Kippur zu schonen, haben sich berühmte Kantoren einen Monat vorher in Meran getroffen und Wein getrunken, weil das der Stimme gut tat.“

Im Zuge der Zählung der in Italien lebenden „Juden“ des Jahres 1938 erhielten die Personalakten sämtlicher Familienmitglieder inklusive des vierjährigen Paul Breuer den Vermerk „di razza ebraica“. Da die gesamte Familie nunmehr die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft hatte, selbst der in Meran geborene Fotograf Edmund Breuer, musste sie die Provinz Bozen verlassen, ungeachtet der Tatsache, dass sie seit gut 30 Jahren in Meran lebte. Die von Italien erlassenen antijüdischen Maßnahmen sahen vor, dass, abgesehen von weiteren wenigen Ausnahmen, nur bleiben durfte, wer über 65 Jahre alt war. Dies traf auf Wilhelm und ein halbes Jahr später auch auf Katharina Breuer zu. Es hatte daher
keinen Zweck, sie zum Mitfahren, zur Reise nach Palästina, zu bewegen, die Julius Regner so gut vorbereitet hatte. Im März 1939 begaben sich die Regners und die junge Familie Breuer nach Triest und nach Abbazia, wo sie die Gelegenheit abwarteten, mit einem Schiff nach Palästina fahren zu können. Am 9. März 1939 schrieb Julius Regner an seinen Sohn Otto, der noch in Meran geblieben war: „Ich hoffe, dass wir uns
Sonntag oder Montag einschiffen werden. So hat uns Herr Kornfeld versprochen. Gleichzeitig hat er bemerkt, es kann eventuell auch länger dauern. […] Gott soll geben, dass die Zores bald ein Ende nehmen.“

Die Überfahrt nach Palästina glückte, doch bei der Ankunft ergab sich ein Problem. Die britische Mandatsmacht, die jüdische Flüchtlinge bis 1935 relativ freizügig einwandern ließ, stoppte 1939 infolge von Unruhen und Protesten der arabischen Bevölkerung die Einreise mitteleuropäischer Flüchtlinge. „Mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und meine Großeltern mussten einen Monat lang auf dem Schiff im Meer bleiben. Die Briten ließen sie nicht an Land gehen. In Gan Yavne konnten sie im Mai/Juni 1939 dann endlich doch an Land gehen
und wurden als illegale Einwanderer in ein Camp gebracht.“ Am 27. Mai 1943 wurde Michael Breuer in Palästina geboren. Die ersten Jahre
in Gan Yavne nahe Ashdod war eine sehr schwierige Zeit, erinnert sich Michael Breuer. „Die Engländer waren als Mandatsmacht hier und mein Vater hat in ihren Camps bei der Navy gearbeitet. Meine Mutter machte für die Engländer die Wäsche. Am 20. Oktober 1944 geschah dann das Unglück. Die Engländer sagten, es war ein Unfall.“ Otto Breuer wurde von einem Militärfahrzeug der Briten angefahren und starb an seinen schweren Verletzungen. Michael Breuer war etwas mehr als ein Jahr alt.

 

Wilhelm Breuer (1871 – unbekannt) – Katharina Breuer (1875 – unbekannt) – Fritz Breuer (1906 – unbekannt) – Edmund Breuer (1909 – unbekannt)

Am 9. August 1939 wurden Wilhelm und Katharina Breuer in Meran abgemeldet. Als neuer Wohnsitz wurde Rovereto angegeben, wo sie allerdings nicht gemeldet waren. Die kurzfristige Übersiedlung war vermutlich notwendig, da Katharina erst im Juni 1940 65 Jahre alt wurde und daher erst ab dann wieder in Meran bleiben konnte. Wilhelm und Katharina kehrten nach Meran zurück, doch wohnten sie nicht mehr in der Rupertstraße 2, sondern bei Familie Götz in der Meinhardstraße 15. Über die Verhaftung von Katharina und Wilhelm Breuer am 16. September
1943 wurde berichtet. Auch für sie gilt, dass nichts Genaues über ihr weiteres Leiden bekannt ist und nur gemutmaßt werden kann, dass sie möglicherweise in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau oder in ein anderes Lager deportiert wurden. Das Ehepaar wurde in der Schoah ermordet.161 Der Fotograf Edmund Breuer flüchtete nach Rom, wo er am 25. Februar 1944 festgenommen wurde. Er wurde in das Konzentrationslager Fossoli gebracht, worüber es auch einen Schriftwechsel mit einer Polizeidienststelle gab. Am 5. April 1944 wurde Edmund Breuer von Fossoli in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er am 10. April 1944 ankam. Cinzia Villani nimmt an, dass er nach dem 18. Januar 1945 gestorben sein muss.162 „Was ist mit Fritz Breuer passiert?“, fragt Michael Breuer, dessen Familie am 2. Mai 1946 vom DELASEM, der „Delegazione per l’assistenza agli Emigranti Ebrei“, verständigt wurde, dass Wilhelm, Katharina und Edmund die Schoah
nicht überlebt haben.163 Walter Götz hatte den DELASEM bereits am 31. August 1945 darüber informiert, dass die Erben sich eventuell um die in Meran vorhandene Einrichtung der Wohnung von Katharina und Wilhelm kümmern müssten.164 Da die Familie jedoch in Israel lebte, war dies nicht sehr einfach zu bewerkstelligen. Über das Schicksal von Fritz Breuer konnte in Erfahrung gebracht werden, dass er nach Frankreich flüchtete und dort ermordet wurde. Blanka Breuer reichte bei der Gedenkstätte Yad Vashem eine Benachrichtigung über sein Schicksal
ein. Was jedoch genau passiert war, konnte bis heute nicht erforscht werden. Es gibt auch keine Antwort auf die Frage, warum sich das Jüdische Museum in Meran nicht schon früher nach der Familie Breuer aus Meran erkundigt hat. Michaels älterer Bruder Paul hätte sich an vieles erinnert und einiges über Meran zu berichten gewusst. Er ist im Frühjahr 2014 gestorben.

 

Joachim Innerhofer, Sabine Mayr: Mörderische Heimat, Hrsg.: Jüdisches Museum Meran, mit einem Vorwort von Peter Turrini, 427 Seiten, franz. Broschur, Euro 24,90.- ISBN: 978-88-7283-503-6, erschienen im Raetia Verlag