Politik | Autonomie

Die Gegenwart der Zukunft

Nach dem Referendum zur Abschaffung der Regionen mit Sonderautonomie in der Lombardei, klopft die Realität an unsere Tür.
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Lombardei, 1. März 2015: Die regionale Demokratische Partei organisiert eine Mitgliederbefragung darüber, wie man den Regionen eine neue Governance geben kann. Eine der Fragen dabei lautete: “Sollen die Regionen mit Sonderstatut abgeschafft werden”?

Und die Antwort? 93% der demokratischen Anhänger stimmten mit “Ja”.

Während wir alle, in Bozen wie auch in Trient, mit der Vorbereitung der Kommunalwahlen, oder besser gesagt mit internen Streiterein unter Parteifreunden (oft sind Parteifreunde bekanntlich die größten Feinde) beschäftigt sind, klopft die Realität an unsere Türen.

Diese Nachricht, bringt uns dazu, über die Natur unserer Autonomie nachzudenken: darüber, wie wir sie leben, und wie wir sie außerhalb Südtirols erklären.

Tatsacht ist: das Klima den Sonderautonomien gegenüber ist rauher geworden, trotz der wiederholten und auch ernst gemeinten Versicherungen des Premierministers, die Eigenart Südtirols und den Bestand der Autonomie zu garantieren. Ein Grund mehr, gute Antworten auf folgende Fragen zu finden:

Wie verstehen wir selbst unsere Autonomie? Wie erklären wir sie außerhalb Südtirols?

Ich denke, wir sollten nicht den Fehler begehen, nach Rechtfertigungen für die Autonomie zu suchen. Denn mit “Rechtfertigungen” begeben wir uns sofort in eine rein defensive Position. Das ist ein beachtlicher Fehler, den wir begehen können, wenn wir Südtirols Realität und Besonderheit anderen nahebringen wollen.

Die reine Verteidigung wirkt nicht. Denn sie basiert auf Annahmen (keine Verschwendung und hohe Effizienz), die von Fakten geschwächt oder widerlegt worden sind. Unser Politiker-Rentenskandal ist fast allen Italienern außerhalb der Region ein Begriff. Wer versucht, die Autonomie zu verteidigen, ist damit in einer schwachen Position.

Du verteidigst dich? Also versuchst du, ein Privileg zu bewahren. Und Privilegien sind ungerecht. So sieht man unsere Autonomie von außen. Und darum ist es wohl klüger, nicht mit einer Rechtfertigung, sondern mit einer neuen Legitimation zu beginnen. Mit einem “Angriff” anstatt mit Verteidigung.

Wir sollten erklären, und zwar zuallererst uns selbst, wie wir uns die Autonomie wünschen. Wenn wir heute in der Situation sind, uns rechtfertigen zu müssen, so liegt das auch daran dass es häufig auch uns selbst so vorkommt, dass die Autonomie und einige ihrer Regeln wie eine Bremse für das Zusammenleben, für die Integration, für die Meritokratie wirkt.

Sich dessen voll bewusst zu werden, ist der erste Schritt. Der zweite ist dann, zu überlegen, wie die Autonomie zum Motor der Innovation werden kann, um unser Land zu einem Vorreiter der europäischen Einigung zu machen. Beginnend bei einigen konkreten Themen: in eine mehrsprachige, europäische Schule investieren, die Art des heutigen Zusammenlebens mit Blick in die Zukunft neu zu denken (und dabei auch die “neuen Bürger” mit einbeziehen); die Zäune hinter sich lassen, die keinen Sinn mehr ergeben; die Kooperationen auf Euregio-Ebene in verschiedenen Bereichen stärken (um nicht zu vergessen, dass wir auch für Europa eine Vorreiter-Rolle spielen sollen)... Kurz gesagt, unser Land mit einigen Beispielen der Innovation auszeichnen.

Südtirol soll zu einem Labor Europas werden und damit der Autonomie eine völlig neue Bedeutung geben. Eine solche Autonomie wird dann auch viel leichter zu erklären sein. So leicht, dass die Debatte in Italien, die derzeit nicht gerade pro-autonomistisch ausgerichtet ist, positiv beeinflusst würde.

Häufig wird von Autonomie mit Blick in die Vergangenheit gesprochen. Gewöhnlich beginnt man mit den internationalen Abkommen (die uns bis heute schützen und auch in Zukunft immer eine Garantie für Südtirol darstellen werden) und erklärt die Geschichte. Gelegentlich auch mit Blick in eine nicht klar definierte Zukunft (seit nunmehr Jahrzehnten wird von einer Reform des Statuts gesprochen, die nun mit dem Konvent auch zu starten scheint, wobei nicht nur der Zeitplan, sondern auch die Ziele unklar erscheinen).

Damit aber unsere Autonomie eine Zukunft haben kann, muss sie erst einmal eine Gegenwart haben, eine bewusste Gegenwart. Die Autonomie ist kein Provisorium, doch wenn wir sie als zu selbstverständlich wahrnehmen, verlieren wir den Blick auf ihr Potential, das kaum genutzt wird.

Gewissermaßen müssen wir uns die Gegenwart und die Zukunft zu Eigen machen, denn sie betrifft uns alle. Die Politik hat dabei die Aufgabe, die Führung dieses Prozesses zu übernehmen. Sie sollte jene wenigen zentralen Aktionen ausfindig machen, die mit Innovation der Autonomie eine neue Vitalität bescheren.

Es geht um nichts geringeres, als die Menschen in Südtirol auf den Geschmack zu bringen, sich um die Gegenwart des Landes zu kümmern, um dann gemeinsam die Zukunft aufzubauen. Jetzt, wenige Monate vor den Gemeindewahlen, wäre es wichtig, dass vor allem die regierenden Parteien die öffentliche Debatte animieren, um die wichtigen Themen in den Mittelpunkt zu stellen, und sich nicht wie so oft in taktischen Spielen über Bündnisse oder einzelne Kandidaten verlieren.

Die Demokratische Partei hat sich besonders dafür eingesetzt, den Konvent zur Autonomiereform in das Koalitionsabkommen zu schreiben. Sie darf jetzt nicht vergessen, den Qualitätssprung für unsere Autonomie auch aktiv voranzutreiben.

Um aus der Gegenwart heraus eine Zukunft aufzubauen, die unserem Land neue Chancen bietet.

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Harald Knoflach Di., 03.03.2015 - 12:17

nach den pöbeleien des herrn frena und den autonomiefeindlichen tönen von links und rechts tut es gut zu wissen, dass auch im pd sehr vernünftige und besonnene menschen mit diskussionskultur und zukunftsvision werken. danke für diesen beitrag. genau darüber müssen wir ergebnisoffen diskutieren. überzeugende, hieb- und stichfeste zukunftsmodelle vorlegen statt einer verteidigungs- und rechtfertigungshaltung, die sich auf irgendwelches recht beruft. denn sonst kommen wir nie aus den eingefahrenen bahnen raus, wenn wir uns immer innerhalb jener grenzen bewegen, die die eingefahrenen bahnen verursacht haben.

Di., 03.03.2015 - 12:17 Permalink
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klemens hacht Di., 03.03.2015 - 13:09

der artikel hat gute anregungen. allerdings schlägt auch hier wieder die fast schon zu blut gewordene alte mentalität durch, die autonomie wäre sozusagen ein osmotisches organ, innerhalb dessen sich eigenständig revolutionäre innovationen nach aussen hin arbeiten und verbreiten. ich erachte diese ansage als politische, rethorische PR, denn die "autonomie", so wie wir sie hier in südtirol zum teil schon fast verinnerlicht zu verstehen glauben, hat teils recht unrealistische, abgehobene züge, von den selbsbestimmungsvisionen einiger gar nicht zu reden. ich bin davon überzeugt, dass autonomie niemals einbahnstrassenartig funktionieren kann. in vielen kulturtechnischen bereichen ist südtirol, aber auch anschliessende regionen, teils wegen der geographischen lage, teils durch (kultur)geschichtlicher politik, nicht sehr fortschrittlich und braucht zusätzlich immer noch den griff nach grösseren entitäten, um sich zu entwickeln oder sogar nur schritt zu halten. für mich muss die autonomie, sofern es überhaupt eine braucht, einerseits als eine art "übersetzungsorgan" zwischen den kultur- und wirtschaftsballungszentren europas und zwischen den alpenregionen funktionieren, andererseits die speziellen lebensräume der alpen berücksichtigen und welche anschliessend im zusammenspiel von beiden fokusierten punkten eine art dritte gesellschaftspolitische substanz bilden, die auf eine regionale balance zwischen wirtschaft, mensch-natur/lebensraumschutz und kulturelle lebendigkeit ausgerichtet ist.

Di., 03.03.2015 - 13:09 Permalink
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Harald Knoflach Di., 03.03.2015 - 15:40

Antwort auf von klemens hacht

ich sehe zwischen deiner vision und autonomie keinen widerspruch. ich kann mich ja auch autonom für weite kreise entscheiden. autonomie bedeutet ja nichts anderes als selbstbestimmung. individuell und kollektiv. die frage ist, welche entscheidungen ich/wir treffe/n. voraussetzung dafür ist die selbstbestimmtheit. diese kann ich dann nutzen um rückwärtsgewandte, progressive oder was auch immer für entscheidungen zu treffen.

Di., 03.03.2015 - 15:40 Permalink
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klemens hacht Do., 05.03.2015 - 23:28

Antwort auf von Harald Knoflach

selbstbestimmung finde ich mittlerweile ein heikles wort, weil es ein politischer slogan geworden ist, der rein positiv besetzt ist ohne differenzierung. sie geben hier ja die inidviduelle und kollektive selbstbestimmung an und die sind für mich völlig zwei paar schuhe. dazu muss ich wieder mal das schweiz-beispiel zitieren, wo bis vor 25 jahren durch eine "kollektive selbstbestimmung" der männlichen schweizer bevölkerung den frauen das wahlrecht nicht gewährt wurde, weshalb eine frau in der schweiz bis anfang der 90er an der politischen öffentlichkeit keine anteilnahme hatte. dass die männer dann allein über das wahlrecht der frauen abstimmen durften, zeigt dass selbst innerhalb eines hochgelobten system der direkten demokratie und selbstbestimmung es zur absolter fremdbestimmung kommen kann, wenn die selbstbestimmung ohne übergeordnete entität als maxime gilt und zu einer paradoxen situation führt. und deshalb ist für mich eben eine übergeordnete entität in der form eines nationalstaates, EU oder ähnlichen unbedingt notwendig und zwar in der funktion, dass sie die individuelle selbstbestimmung gewährleistet und sie in der kollektiven einbettet.

Do., 05.03.2015 - 23:28 Permalink
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Benno Kusstatscher Mi., 04.03.2015 - 16:00

Antwort auf von klemens hacht

Klemens, schön geschrieben. Klingt aber so, als hätten wir die nationalstaatlichen Rahmenbedingungen bereits überwunden, bzw. als ob die derzeitigen, zentralistischen Strömungen sich in irgendeiner Form in Deinem Sinne bewegen würden. Ich denke, Du gehst von idealisierten Rahmenbedingungen aus.

Mi., 04.03.2015 - 16:00 Permalink
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Maximilian Ben… Di., 03.03.2015 - 14:41

Brava Piccinotti! E´ molto importante che i nostri conterranei comprendano come siano variegata e mature le posizioni politiche rispetto l'autonomia di persone (più giovani). Condivido il centro delle tue riflessioni.

Di., 03.03.2015 - 14:41 Permalink
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Ilaria Piccinotti Di., 03.03.2015 - 17:18

Danke für Anmerkungen und auck Kritiken. Zukunft der Autonomie baut man auch so.
Grazie per commenti e critiche. Dimensione di dialogo di e su autonomia, che e' davvero di tutti e non di un circolo di "eletti" (in ogni senso...).

Di., 03.03.2015 - 17:18 Permalink