Gesellschaft | schule I

atmosphärentaucher

der fötus im mutterleib beginnt seine sinne vor allem über atmosphärische eindrücke zu schulen. als erste nehmen drei sinnessysteme, die basissinne die arbeit auf: gleichgewichtssystem, das taktile system, das system der tiefenwahrnehmung oder eigenwahrnehmung.
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wir betreten räume und befinden uns in räumen. wir befinden uns so stark in räumen, dass unser körperlicher und geistiger zustand auch befinden genannt wird. diese räume sind nicht metrisch messbar, sie können ephemerer natur sein, sie sind schwer bis überhaupt nicht reproduzierbar, diese räume sind atmosphären,in die wir tauchen. diese umgebungen in denen wir uns befinden, die wir ständig wechseln und unser befinden stark beeinflussen sind atmotope, orte, umgebungen, räume die sich über atmosphären definieren.

schon als fötus startet unser atmosphärentauchertum, die sinne werden behutsam eingeschult, haptik, akustik und helle sind die ersten wahrnehmungen die das befinden steuern. die tiefenwahrnehmung und der gleichgewichtssinn werden geschult. weich und gedämpft dringen impulse wie laute, berührungen, lichter durch hautdecken durch.

die einschneidenste raumerfahrung die der fötus als erstes im wahrsten sinne des wortes hautnah erlebt sind weite und enge: diese raumerfahrung soll sich abwechselnd durch das leben ziehen. als bohnengrosses lebewesen einer taucherkapsel ähnelnd steht ein grosser fluider raum zur verfügung der, durch sein wachsen ihm immer enger wird. also steht die geburt als letzter ausweg aus der immer drückenderen enge bevor. die erlangte freiheit und das plötzliche ausgespuckt werden aus wärmender vertrauter umgebung ruft ängste hervor die wiederum nach enge und geborgenheit verlangen. vater und mutter legen nunmehr die aussenhaut um das baby. bonding als gelehrte praxis in geburtsstationen und eigendlichem urinstinkt von vater und mutter. die tiefenwahrnehmung des kindes lässt vater und mutter unverwechselbar sein, gerüche, art der berührung, stimmen, prägen die wahrnehmung des babys. war die zunehmende entfernung von neugeborenem zu seinen eltern durch die benutzung und entwicklung des kinderwagens vorprogrammiert, so zeichnet sich seit geraumer zeit ein trend zunehmender annäherung der körper von neugeborenem und eltern ab. tragetuch und babytrage, stillen und bonding als geborgenheitsstiftende elemente werden vätern und müttern in verschiedenen institutionen "beigebracht". vergehen einige jahre so wird diese neue enge für das kleinkind unerträglich und nabelt sich von neuem ab, ab richtung freiheit und unabhängigkeit von besorgten blicken und zerdrückenden umarmungen. der begriff "trotzphase" wird fürsorglichen eltern gewissheit und beruhigung für die ständige suche nach causa und benennung geben. vergehen wiederum jahre und das kind wird selbst zum vater oder zur mutter, so scheint die bindung sich wieder zu verfestigen und ins bewusstsein zu geraten, die weite wird etwas enger, und verengt sich schliesslich wenn ein bindeglied an einem ende der kette zu verschwinden droht. trauer als höchste letzte empatische regung.


enge und weite: die raumerfahrungen die auf so vielen ebenen
so verschiedenartig erlebbar sind, stellen zugleich die ursprünglichsten
dar.


diese wahrnehmungen die eben beschrieben wurden können unter dem begriff nähe und vertrautheit gesammelt werden. die urwahrnehmungen des menschen, die sich nicht nur zwischenmenschlich äussern und ausbalanciert werden, sondern auch wenn wir räume betreten.

 

textpassage aus : "herzblut-eine hommage an die wahrnehmung" diplomarbeit Christine Renzler

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