Politik | Brenner

"Wie war das noch mal mit der Schutzmacht"?

Häme, Entsetzen, Besorgnis: In Medien und sozialen Netzwerken wird die gesicherte Grenze am Brenner weit weniger gefasst kommentiert als von den drei Euregio-Chefs.

"Es ist eine Ironie der Geschichte, dass wir jetzt den Staat Italien anrufen müssen, um uns vor der Schutzmacht Österreich zu schützen“: Der Freiheitliche Pius Leitner ist nicht der einzige, der den gestrigen Wien-Ausflug des Euregio-Trios nicht im Sinne der drei Landeshauptleute interpretiert. Auch JournalistInnen und Kommentatoren in- und außerhalb der Provinz nehmen die defintiv beschlossenen Grenzkontrollen mit weit weniger Verständnis zur Kenntnis als die Kompatscher & Co. Als erfolglosen Bittgang nach Wien, interpretiert die Tageszeitung Dolomiten am Mittwoch das Treffen, „lo schiaffo di Vienna“, schreibt der Corriere dell’Alto Adige. Ähnliche Töne finden sich in den sozialen Netzwerken: „Wie war das noch mal mit der österreichischen Schutzmacht für Südtirol? Politisch unfassbar kurzsichtig“, twittert die gebürtige Südtiroler Journalistin und Co-Chefredakteurin des österreichischen Wochenmagazins News Esther Mitterstieler. „Ein Grenzmanagement am Brenner ist kein zweites Spielfeld, sondern das Ende eines europäischen Vorzeigemodells“, schreibt der Tiroler Polit-Kommentar Peter Plaikner in der Tiroler Tageszeitung.  „La madrepatria divora i suoi figli“, ätzt PS-Mann Antonio Frena.  „Wo bleibt Euer Versprechen unsere Schutzmacht zu sein“, liest man in einem Post des ehemaligen SVP- Bezirksjugendreferenten Hans Christian Oberarzbacher. „Tirol vereinen, indem man Südtirol aufgibt? Jetzt kann ich unsere Nordtiroler Freunde mit ‚Tausche Wien gegen Südtirol’ verstehen.“

„Wir müssen einfordern, dass die Maßnahmen in Abstimmung mit der Europaregion getroffen werden“, werden SVP-Obmann Philipp Achammer und Landeshauptmann Arno Kompatscher nicht müde zu wiederholen. „Schlimm wäre es, wenn die Landesteile auseinander dividiert würden, doch wir treten gemeinsam auf“, unterstreichen sie.  Medial darf sich allerdings genauso der ehemalige Landeshauptmann Luis Durnwalder darüber auslassen, dass Handelskammerpräsident Michl Ebner offenbar die besseren Beziehungen zu Regierungs- und Pressedienststellen in Wien hat als sein Nachfolger Arno Kompatscher. Der bekommt in der Tageszeitung Dolomiten von Redakteurin Luise Malfertheiner noch einmal sein Fett ab: Wusste der Landeshauptmann schon vorab, dass ein Zaun kommt und wollte er den Südtirolern diese bittere Nachricht nicht zumuten oder haben ihn die Wiener Zaun-Pläne einfach nur kalt erwischt“, fragt sie auf Basis eines Vergleichs widersprüchlicher Zaun-Aussagen des Landeshauptmanns.

Klare Ansagen zur Brenner-Schließung kommen auch aus der Welt der Kultur: Entsetzt über die „blindwütige Politik der Tiroler Landes- und der Österreichischen Bundesregierung, mit der sie sich über die besondere Bedeutung dieser Grenze hinwegsetzen und über die Kaltherzigkeit, mit der sie auf die größte Flüchtlingsbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg reagieren“, zeigen sich auch die Vorsitzenden der Südtiroler Autorenvereinigung und der Interessengemeinschaft österreichischer Autorinnen und Autoren Maxi Obexer und Gerhard Ruiss. In einem offenen Brief  fordern sie Österreichs Bundesregierung unter anderem dazu auf, ihre besondere Verantwortung gegenüber Südtirol wahrzunehmen. Auch die Tiroler  Landesregierung dürfe nicht „sehenden Auges die Südtiroler Wirtschaft, die Südtiroler Kultur und den Tourismus in Südtirol zu beschädigen“.

„Es hat Jahrzehnte gebraucht, um die historischen Schwierigkeiten zu überwinden und zu neuen Gemeinsamkeiten zu finden. Es hat Jahrzehnte gebraucht, um eine neue kulturelle Gegenwart zu entwickeln, die jenseits der nationalen Einordnungen entstanden ist. Das alles darf nicht durch neue Grenzen, neue Isolationen, neue Fronten mutwillig und ohne Not zerstört werden.“