Sozialer Blindflug
So verunsichert Angehörige und Beschäftigte sind und so ungewiss sein Ausgang ist: Zumindest eine gute Seite hat der Fall Lecce. Denn die mögliche Vergabe des Transport- und Begleitdienstes für SchülerInnen mit Beeinträchtigung an ein gewinnorientiertes Unternehmen aus Süditalien hat erstmals ein breites öffentliches Bewusstsein für ein Problem geschaffen, gegen das im Sozialbereich seit 2010 erfolglos angekämpft wird: die Ausschreibung von sozialen Dienstleistungen – die damit ähnlichen wirtschaftlichen Kriterien unterworfen werden, wie der Bausektor, wie der Präsident der Lebenshilfe Hans Widmann kritisiert. Und zwar ohne zwingenden gesetzlichen Grund. Das bestätigte am Mittwoch auch EU-Parlamentarier Herbert Dorfmann in einem Interview mit der Neuen Südtiroler Tageszeitung.
Doch während man in einem Fall wie der Brennerautobahn von Pontius zu Pilatus laufe, um die vorgesehene Ausschreibung zu verhindern, hat im sozialen Bereich laut Widmann bislang das Interesse gefehlt, sich mit dem Thema und seinen Folgen auf das soziale Netz im Land auseinanderzusetzen. Denen sei nicht zuletzt aufgrund der Zersplitterung der sozialen Dienste auf sieben Bezirksgemeinschaften und den Betrieb für Sozialdienste schwer beizukommen: Denn statt einer zentralen Stelle hätten die Vereine, Verbände und Genossenschaften acht Ansprechpartner. Ein Rechtsgutachten des Landes, das die Ausschreibung als rechtssichersten Weg nahelege, die Angst vieler Verwalter vor dem Rechnungshof und persönlichen Schadenersatzzahlungen – laut dem Geschäftsführer des Dachverbandes der Sozialverbände Georg Leimstädtner ist es ein Mix aus Gründen, die dazu führen, dass nach vergleichbaren Fällen in der Hauspflege oder in Behindertenwerkstätten nun auch SchülerInnen mit Beeinträchtigungen und ihre Familien Gefahr laufen, nicht ihren Bedürfnissen entsprechend betreut zu werden. Ausschlaggebend ist dafür laut Präsident Martin Telser nicht einmal so sehr die Herkunft von Unternehmen, sondern der Einzug von gewinnorientierten Unternehmen in Südtirols Sozialwesen: Denn diese verfolgen naturgemäß andere Zielsetzungen als die Genossenschaften oder Organisationen, die den Bereich bisher prägten.
Gefährdete Pionierarbeit
Wie bei einer Pressekonferenz der Lebenshilfe am Mittwoch deutlich wurde, ist das Thema Ausschreibungen jedoch bei weitem nicht das einzige Sorgenkind der vielen und zu einem großen Teil ehrenamtlich arbeitenden Menschen im Sozialbereich. „Was wir derzeit erleben, sind die Folgen eines sozialen Blindflugsystems“, kritisierte der Geschäftsführer der Lebenshilfe Wolfgang Obwexer die vorherige Landesregierung und damit zumindest indirekt auch den bislang verantwortlichen Landesrat Richard Theiner. Nach der Pionierarbeit von Waltraud Gebert-Deeg und Otto Saurer sei in Südtirols Sozialwesen ein Stillstand eingetreten. Und zwar nicht nur aufgrund der schrumpfenden Haushaltsmittel, sondern beispielsweise auch aufgrund des geringen Interesses der alten Landesregierung an einem Sozialplan.
Ersatzlose Streichung des Landessozialbeirates
Sichtbar wird das „soziale Blindflugsystem“ nicht zuletzt bei der geplanten ersatzlosen Streichung des Landessozialbeirates, erklärten die Vertreter der Lebenshilfe. Auch Menschen mit Beeinträchtigungen würden jedoch immer mehr zu Opfern einer kurzsichtigen Sozialpolitik: von einem akuten Reformbedarf in wichtigen Bereichen wie Arbeit und Wohnen bis hin zu laufenden Kürzungen von Unterstützungsmaßnahmen wie Familiengeld, Beiträge zu Hilfsmitteln oder auch Zuschusszahlungen für die Integration auf dem Arbeitsmarkt. „“Wir haben innerhalb weniger Wochen eine Hiobsbotschaft nach der anderen erhalten“, erklärte ein Vertreter der Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen, „und das in Zeiten, in denen die Politik vor allem mit ihren Vorschüssen und Renten beschäftigt war.“
Stoff genug, um zu einem sozialen Kurswechsel der neuen Landesregierung beizutragen? Zumindest die Hoffnung besteht bei der Lebenshilfe. Ob sie berechtigt ist, könnte sich bereits bei einem Treffen der Sozialverbände mit Landeshauptmann Arno Kompatscher, Soziallandesrätin Martha Stocker und Schullandesrat Philipp Achammer am 3. September zeigen.