Politik | Gastbeitrag

Separatismus und der richtige Zeitpunkt

Wolfgang Wielander ist als Rechtsanwalt in Bozen mit europäischen Fragen befasst und nimmt zur Diskussion der salto-Community Stellung: Wieviel verträgt Europa den Separatismusgedanken? Und wann?

Der Beitrag von Frau Rier scheint einen Nerv getroffen zu haben, da er sehr viele und die unterschiedlichsten Kommentare zur Folge hatte. Die bevorstehenden Wahlen zum Europaparlament lassen das Thema noch aktueller werden. Frau Rier schreibt, man solle endlich aufhören über das Thema Separatismus zu diskutieren, da dies nur immer wieder aufs Neue einen Keil in die Bevölkerung treibe und man sich besser um andere Dinge kümmern solle. Sie zitiert einen Artikel der Monatszeitschrift „Cicero“ (übrigens eine aus meiner Sicht ganz ausgezeichnete Zeitung, die ich jeden Monat mit großem Interesse lese, auch wenn ich ausnahmsweise mit dem hier erwähnten Bericht nicht ganz einverstanden bin). 

Im Cicero-Artikel heißt es, der Separatismus sei in Europa eine „Krankheit“, die den ganzen Kontinent vergifte. Ansprüche auf „Separation“ seien daher „verantwortungslos“. Dem stimme ich nicht zu und somit auch nicht den Ausführungen von Frau Rier.

Aus meiner Sicht ist ein Staatsgebilde eine sinnvolle Sache, solange der überwiegende Teil der Bevölkerung sich mit eben diesem Staatsgebilde anfreunden kann. Falls aber tatsächlich der Fall eintreten sollte, dass – sagen wir mal – 90% der Bevölkerung nicht mehr in einem bestimmten Staatsgebilde leben möchte, dann ist aus meiner Sicht der Wille der Bevölkerung wesentlicher als das unbedingte Festhalten an Gebilden oder Grenzen, die von der Bevölkerung in hohem Ausmaß abgelehnt werden. 
Es ist also aus meiner Sicht nicht so, dass Grenzen von Staaten oder Regionen ewig bestehen müssen. Wesentlich muss immer sein, dass die Bevölkerung, die in diesen Staatsgebilden lebt, überwiegend mit eben diesen oder den entsprechenden Grenzen einverstanden ist. Nicht der Staat ist wesentlich, sondern das Wohl und der Wille der Bevölkerung.  
Ich würde allerdings sagen, dass schon eine deutliche Mehrheit von Menschen eines bestimmten Gebietes notwendig sein sollte, um Staatsgrenzen zu ändern, da eine solche Änderung zu erheblichen Problemen und vielen Komplikationen führen würde. Selbstverständlich dürften solche Änderungen auch niemals mit offener oder versteckter Gewalt herbeigeführt werden. Wenn wir das aktuelle Beispiel der Abstimmung auf der Krim betrachten, dann hat dort offensichtlich eine überdeutliche Mehrheit der Bevölkerung die Meinung geäußert, man möchte aus dem Staatsgebiet der Ukraine ausscheiden. 

Nehmen wir mal an, dass diese Abstimmung korrekt verlaufen sei und sich alle Bevölkerungsgruppen in diesem Gebiet auch tatsächlich in großem Ausmaße an dieser Abstimmung beteiligt haben (was, soweit ich weiß, nicht so ganz der Fall war). Hätten sich dann tatsächlich über 90% der Abstimmenden für eine Loslösung vom ukrainischen Staat entschieden, dann sollte dieser Wille als der der Bevölkerung beachtet werden und damit wesentlicher sein als irgendwelche anderen Überlegungen, wie z.B. zwischenstaatliche Verträge. 
Staatsgrenzen haftet ja fast immer etwas Künstliches an und daher sollten sie auch – nicht leichtfertig und nur in Ausnahmefällen und natürlich nur gewaltlos  – geändert werden dürfen.
Ich bin also nicht der Meinung, dass eine Diskussion über das Thema „Separatismus“ unbedingt zu vermeiden sei. Und dies gilt auch für Südtirol. 
Was Südtirol betrifft, so ist mir gerade bei der italienischen Sprachgruppe aufgefallen, dass der Italien-Nationalismus in den letzten Jahren stark abgenommen hat. Immer wieder kommt es bei Diskussionen vor, dass auch italienische Muttersprachler erklären, man könne sich durchaus eine Abspaltung vom italienischen Staat vorstellen. Hier ist also eine Diskussion in Gang gekommen, die vielleicht auch mit der schweren Wirtschaftskrise zusammenhängt, die Italien seit längerer Zeit durchlebt. 
Sollte es also tatsächlich so sein, dass sich sprachgruppen-übergreifend in Südtirol die Auffassung durchsetzen sollte, man müsse eigene, neue Wege gehen, dann sollte dies aus meiner Sicht auch dazu führen, dass man über bestehende Grenzen oder Staatszugehörigkeiten diskutieren sollte. 
Ich glaube aber trotz der zunehmend heißen Diskussion über dieses Thema nicht, dass wir zur Zeit in Südtirol eine große Mehrheit für eine solche grundlegende Veränderung finden würden. 
In einer Grenzregion zu leben, hat ja durchaus auch großen Reiz und Vorteile. Und gerade als nördliche Grenzregion Italiens gibt es eine ganze Reihe von – z.B. wirtschaftlichen, kulturellen, touristischen, kulinarischen u.s.w. – Vorteilen, die sich Südtirol daraus erschließen.  
Mir fällt dazu  z.B. der englische Historiker Arnold Toynbee ein, der in seinem Buch „Der Gang der Weltgeschichte“ unter anderem ein Loblied auf Grenzregionen singt und meint, gerade von solchen Grenzregionen käme durch die Herausforderungen, die sie stärker als andere Regionen zu meistern hätten, immer wieder neue und positive Impulse für die Gesellschaft als Ganzes.

Aber das Wohlbefinden der Bevölkerung kann sich natürlich auch mit der Zeit ändern. So könnte sich z.B. in Südtirol aus meiner Sicht dann Einiges tun, sollte der Staat Italien noch stärker in eine Wirtschaftskrise stürzen und Südtirol die entsprechenden Auswirkungen noch deutlicher als bisher zu spüren bekommen. Jedenfalls fände ich es wichtig, dass Diskussionen über wesentliche Veränderungen in Südtirol nicht nur von Vertretern einer Sprachgruppe geführt werden, sondern dass alle Sprachgruppen beteiligt werden und auch alle diese Sprachgruppen mit übergroßer Mehrheit solche grundlegenden Änderungen wünschen. Aus meiner Sicht ist aber ein solcher Punkt zur Zeit (noch) nicht erreicht.