Gehen oder Bleiben
Fast ein halbes Jahrhundert dauerte das Schweigen. Der Mantel eines künstlichen und politisch gewollten Vergessens, das mit dem Wort Verdrängung präziser definiert wäre. Dann, 1989, rückte eines der dunkelsten Kapitel der Südtiroler Geschichte plötzlich ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit - mit einer großen Ausstellung in Bozen, die 30.000 Besucher verzeichnete. Dort konnten sie unter vielen vergilbten Fotos auch jenes legendäre Bild betrachten, auf dem NS-Vertreter und einige Südtiroler im Juli 1940 ihren Blick von einem Hügel über das Siedlungsgebiet Burgund schweifen ließen, das den Südtirolern vom Nazi-Regime nach der Eroberung Frankreichs angeboten wurde. Viele konnten zum ersten Mal einen Blick auf die Propaganda und die Gehirnwäsche werfen, der ihre Eltern ausgesetzt oder deren aktiver Teil sie waren. Vor allem aber räumte die Ausstellung mit ihrem umfangreichen Katalog mit einem über Jahrzehnte eifrig gepflegten Mythos auf: Alle Südtiroler seien nach dem Umsiedlungsabkommen gleichermaßen Opfer gewesen. Eine bequeme Geschichtslüge, mit dem unliebsame Kapitel wie die Deportation von Dableibern ins KZ oder die Vertreibung der Meraner Juden verschleiert werden sollten. Die Optionsausstellung war der Bruch eines Tabus und öffnete den Weg zu einer Flut von Publikationen, Filmen, Theaterstücken und Memoiren.
Nun, zur 75. Wiederkehr, rückte eine Tagung in der Universität Bozen die Erinnerungsgeschichte in den Vordergrund: Wie war das damals 1989? Welchen Wandel und welche Kontinuität hat die Erinnerungsgeschichte von der Verdrängung und der dominanten Opferdiskussion bis zur kollektiven Memorisierung erfahren? Damit beschäftigtigt sich die Historikerin Eva Pfanzelter in ihrem neuen Band Option und Gedächtnis - Erinnerungsorte der Südtiroler Umsiedlung.Wohl zum letzten Mal kommen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in dieser Form und Zahl zu Wort: Wie haben sie die Zeit der Option erlebt? Welche Erinnerungen haben sie sich eingeprägt? Was ist erzählbar, was wird verschwiegen? Ein Projektteam hat in rund 70 Interviews insgesamt 25 sogenannte „Erinnerungsorte“ ausgemacht. Dabei wird deutlich, dass Erinnerung kollektiven Gedächtnismustern und tradierten Erzählstrukturen folgt.
Vor dem Gedenkjahr 1989 hatte es nur vereinzelte Versuche gegeben, das Schweigen zu brechen: Wichtige Dissertationen wie jene von Leopold Steurer, die 1980 im Europa-Verlag Wien publiziert wurde oder die im selben Jahr erschienene Sondernummer der Zeitschrift Föhn. Darin wurden viele bisher vorherrschende Thesen in Frage gestellt und neue Aspekte des Südtirol-Problems von der Annexion bis zum Umsiedlungsabkommen aufgezeigt. In dem reich illustrierten Sonderheft des Föhn konnten Leser u.a. die Propaganda und die literarischen Darstellungen von "Opfergang und Bekenntnis" nachlesen. Auch Reinhold Messner hatte mit seinem Buch Die Option wesentlich zur Disussion beigetragen. In der Zwischenzeit haben wir viel Neues erfahren. Gerald Steinacher enthüllte in seinem Buch Nazis auf der Flucht neue Fakten über die Flucht von NS-Schergen wie Adolf Eichmann und Josef Mengele, die nach dem Krieg in Südtirol Aufnahme fanden und denen Natzwerke wie jene des SS-Sturmbannführers Karl Nicolussi Leck mit Südtiroler Ausweisen die Flucht nach Lateinamerika ermöglichten. Aufnahme fanden die Kriegsverbrecher in Südtiroler Klöstern. Gewiß: wir haben in den letzten Jahrzehnten vieles erfahren über Option, NS-Zeit und Faschismus in Südtirol. Doch für junge Historiker bieten sich , wie Steinachers Buch beweist, noch etliche unaufgearbeitete Kapitel an, deren Klärung zusätzliches Licht in die Vergangenheit des Landes bringen kann.