Gesellschaft | Minderheiten

I am Québecois

An der Eurac waren in diesen Tagen Studenten aus Kanada zu Gast: Wie sieht es dort mit frankophonen Minderheiten, Multikulturalismus und Einwanderung aus?

Marie Hélène Eddie und Félix Mathieu sind beide Frankokanadier, ihre Muttersprache ist französisch, ihre Eltern und Großeltern haben ebenfalls französische Wurzeln. Doch Marie Hélène und Félix leben, arbeiten und studieren in zwei völlig unterschiedlichen kanadischen Realitäten und Territorien.

Die Deportation der französischstämmigen Akadier 

Während er, 23, aus der Hauptstadt der größten kanadischen Provinz, der im Osten an der Hudson Bay gelegenen Region Québec stammt und dort Politische Wissenschaften studiert, lebt Marie Hélène, 29, weiter südlich in der Seeprovinz New Brunswick und ist Doktorandin (PhD) in Minderheitenforschung. Sie und ihre Familie gehören zu den sogenannten Akadiern, den Nachkommen der ersten französischen Siedler, die sich im 17. Jahrhundert an der Ostküste Nordamerikas niederließen. „L‘Acadiens, die Akadier könnte man auch als historische französischsprachige Minderheit definieren,“ erklärt Marie Hélène ihre Herkunft, „1755 wurden sie von den Briten aus ihren Heimatgebieten deportiert, es gab eine regelrechte Säuberung und viele von ihnen wurden in die USA abgeschoben, einige konnten bei den Indianern, den First Nations unterkommen und etliche flohen nach Québec.“ Einige wenige kehrten aber wieder zurück in ihr angestammtes Gebiet; heute gibt es in New Brunswick eine gemischsprachige Situation mit einem Drittel Franzosen und zwei Drittel Engländern. "Wir sind auch die einzige offiziell zweisprachige Provinz Kanadas.“ Politisches Gewicht haben die Akadier trotz ihrer Minderheitenrolle, sie halten das Bewusstsein für die frankokanadische Themendiskussion am Laufen.

Die Mehrheit im eigenen Land, aber Minderheit im Staat

Félix, der Politikwissenschaftsstudent lebt hingegen im absoluten Zentrum Frankokanadas, in Québéc. Er studiert Multikulturalismus und Interkulturalismus an einer der ältesten Universitäten des amerikanischen Kontinents, der Laval. Die beiden Modelle verkörpern ein wenig die aktuelle politische Diskussion zur Ethnien- und Minderheitenintegration in Kanada bzw. Québéc. „Es gibt einen grundlegenden Unterschied, ob man sich als Frankokanadier oder als Québecois fühlt,“ erklärt er. „Wir sind die einzige Provinz in Kanada mit einer französischsprachigen Mehrheit, und obwohl in Kanada Englisch und Französisch Amtssprachen sind, sprechen wir als offizielle Sprache Franzöisch.“  

2006 wurden die Quebecer offiziell als „Nation in einem vereinten Kanada“ anerkannt. Man ist also Mehrheit in der Provinz, jedoch Minderheit im Staat, das klingt einigermaßen bekannt. Dazu gibt es frankophone Inseln im restlichen Kanada, die sich jedoch weniger als québecois-zugehörig verstehen, als vielmehr eine eigenständige Identität verkörpern, so wie die Akadier Marie Hélènes. „Kanada ist multikulturell orientiert, 1971 führte es als erstes Land der Welt eine Politik der Anerkennung und Integration seiner über 200 Ethnien ein,“ erklärt Félix. Ob die Ureinwohner der First Nations, die Franko- und Anglokanadier aus der Siedlerzeit, die Métis, also jene Siedler die sich mit den Nativen vermischten oder die später hinzugekommenen Einwanderer aus Europa und den Ländern der Dritten Welt, für alle gelten dieselben Rechte und Zugänge zu Arbeit, Ausbildung und Existenzsicherung.

Angst vor zuviel Multikulti?

Dieser Multikulturalismus gefällt aber nicht allen, vor allem die Quebecer meldeten Vorbehalte an, weil sie nicht zu einer ethnischen Gruppe unter vielen herabgestuft werden wollten. Die „Babylonisierung“ Kanadas soll von den Problemen der ethnischen Minderheiten ablenken, ist die Befürchtung: „Wir in Québéc sind viel eher vom interkulturellen Modell überzeugt, „ erklärt Félix, „wir haben eine starke Identität und sind politische Mehrheit in unserer Provinz, trotzdem werden nirgendwo sonst Themen wie Minderheit, Sprache, Separatismus oder Unabhängigkeit so stark diskutiert wie bei uns. Wir befürworten natürlich ein Zusammenleben mit anderen ethnischen Gruppen, doch ohne Angst um unsere Identität haben zu müssen.“  

Den Kampf um ein unabhängiges Québéc hat es immer wieder gegeben, in den 1960er Jahren wollte die Front de libération du Québec mit über 200 Anschlägen eine marxistische Provinz herbeibomben. 1980 und 1995 gab es die zwei großen Unabhängigkeitsreferenden, beim zweiten stimmte eine äußerst knappe Mehrheit für den Verbleib bei Kanada. „Zur Zeit ist der Unabhängigkeitsgedanke nicht sehr stark ausgeprägt,“ erzählt Félix, als Nation innerhalb eines geeinten Kanadas, sei man relativ geschützt. Québéc gilt als Vorbild und Referenzland für die frankophonen Inseln in Kanada, aber auch für die französischsprechenden Länder in Asien oder Afrika. „Mit Frankreich haben wir jedoch wenig Berührungspunkte, weder gesellschaftlich noch politisch, auch wenn wir zu Feiertagen die französische Flagge aushängen.“

Wie funktioniert Schule in Kanada?

Dass sich die Situation der Frankokanadier zuviel am Quebecer Modell orientiert, stört Marie Hélène. „Es ist gut, dass die Minderheitenfrage immer wieder im Parlament diskutiert wird, dafür bin ich den Québecois auch dankbar, doch es gibt auch negative Auswirkungen.“ Wenn zum Beispiel eine Gruppe von Frankokanadiern in Yukon eine französische Schule wollen, dann wird es schwierig, denn dann könnte auch die englischsprachige Minderheit in Québec ein solches Recht einfordern.“

Schule in Kanada ist genauso zweisprachig wie die Amtssprache, allerdings in getrennter Form. „Wenn du aus einer französischen Familie kommst, musst du die Grund- und Mittelschule in dieser Sprache absolvieren, erst die Oberschule ist frei wählbar.“ Anglophone Kandadier hingegen dürfen alle Schultypen frei wählen. Gibt es auch gemischte Schulen? Es gibt eine Art der Immersion, ein Jahr lang Unterricht in der jeweils anderen Sprache. Doch Marie Hélène ist vorsichtig: „Ich bin mir bewusst, dass wir auf unsere frankophone Identität sehr gut aufpassen müssen, denn Englisch ist auch für die Schüler außerhalb der Schule die Sprache Nummer 1, während die Anglophonen kaum Französisch sprechen.“ Ihre Befürchtung klingt auch irgendwie bekannt…

Marie Hélène will jedenfalls im Bereich bleiben, sie fühlt sich sehr stark der Minderheitenidentität ihrer Akadier zugehörig: „Ich hatte nicht von vornherein die Absicht, in diese Thematik so intensiv einzusteigen, das ist gewachsen und irgendwann waren meine Studienfächer alle mit dem Fokus Minderheit vesehen.“ Sie glaubt, dass dieses Bewusstsein daher rührt, sich einem ständigen Kampf ausgeliefert zu sehen, mit der „Mehrheit“ um das Recht auf Sprache und Zugehörigkeit in Dauerverhandlung zu stehen. Nicht alle Frankokanadier seien so, fügt sie schmunzelnd hinzu. Für Félix hingegen ist es anders. Er ist selbstbewusster Québecois und somit bereits „Mehrheit“, seine Region betrachtet er als kleines Labor fürs Zusammenleben. „Wie gehen wir beispielsweise mit Einwanderung um?“, fragt er. Kanadas multikulturelles System zieht jährlich 55.000 Einwanderer an, die über selektive Kriterien ins Land kommen. „Das sind Fragen, die uns derzeit beschäftigen und die unsere verschiedenen Systeme wieder fordern, das ist doch spannend.“

Südtirol ist für beide ein Ideal-Modell im Zusammenleben, nach zwei Wochen "Eurac Summer School" rund um die Themen Menschenrechte, Minderheiten und Diversity-Management, Besuchen im Landtag und Kennenlernen von Politikern, Parteien und Gruppen. Sie sind voll des Lobes über Qualität und Status der Südtirol-Autonomie, die Stellung die das kleine Land im römischen Parlament innehat, den Proporz in Politik und öffentlichen Stellen. „I wish we had that a little more in Canada.“

 

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gorgias Fr., 26.06.2015 - 17:17

Der Artikel ist richtig gut.Das Ende ist aber entaeuschend. Eine ein bischen differenzierte Beuteilung waere schon wuenschenswert gewesen.

„Kanada ist multikulturell orientiert, 1971 führte es als erstes Land der Welt eine Politik der Anerkennung und Integration seiner über 200 Ethnien ein,“

Italien ist seinem.selbstverstaendnis nach ein zentralistischer Nationalstaat der minderheiten gewisse rechte zugesteht, aber im Grunde dies als nicht verdiente Privilegien ansieht.

Suedtirol hatte im gegensatz zu quebec noch keine gelegenheit ein sezessionsreferendum abzuhalten. Italien hat noch nicht einmal ansatzweise seine faschistische Vergangenheit aufgearbeitet. Canada anscheinend schon seine coloniale.

Wer nur zwei wochen hier ist und nur englisch und franzoesisch kann, den kann man viel erzaehlen.
Schaun wir was im italienischen Parlament von gewicht fuer sudtirol ubrig bleibt nach der inkraftsetzung des 3. Autonomiestatut.

Aber wie schon gesagt, ansonsten sehr gelungener Artikel.

Fr., 26.06.2015 - 17:17 Permalink