Eine Farce
Rund 100 IS-Kämpfer seien in die Türkei " eingeschleust "worden, um dort Attentate zu verüben, vermeldeten türkische Medien. Die Frage ist nur, welchen Sinn es macht, IS-Kämpfer in die Türkei "einzuschleusen", also in jenes Land, das den IS-Terroristen seit Jahren Bewegungsfreiheit innerhalb des eigenen Territoriums zugesteht , um den Islamischen Staat problemlos zu erreichen und dann wieder zu verlassen.
Dass diese IS-Terrormeldungen eine Finte der türkischen Regierung sind, um den Westen glauben zu machen, die Türkei bekämpfe den Islamischen Staat, behaupte ich seit Wochen bei den Treffen mit unseren Freunden und Bekannten in Istanbul. Der Scheinkonflikt soll nur verdecken, mit welcher Brutalität die türkische Regierung die Kurden niederschlägt, die den IS nicht nur mit Worten, sondern mit Taten bekämpfen.
Mindestens 2000 Kurden sind seit der Aufkündigung des Waffenstillstands durch Staatspräsident Erdogan ums Leben gekommen. Im Südosten der Türkei spielt sich - fernab der Weltöffentlichkeit - ein Massaker an der kurdischen Bevölkerung ab. Selbst in Istanbul ist von den toten Kurden und PKK-Kämpfern nichts zu hören.
Die Verfolgung der Kurden geht soweit, dass der Chef der kurdischen Oppositionspartei HDP Demirtas verkündet hat, seine Landsleute würden sich jetzt ebenfalls dem Flüchtlingsstrom Richtung Europa anschließen.
Dass über die Kurdenverfolgung kaum berichtet wird, ist auf die immer stärker eingeschränkte Pressefreiheit in der Türkei zurückzuführen. In den letzten 48 Stunden wurden 32 Journalisten kurdischer Medien festgenommen und wieder freigelassen. Einschüchterung und Zensur stehen auf der Tagesordnung.
Berichtet werden darf höchstens über die toten Polizisten und Soldaten, die bei den Vergeltungsschlägen der PKK ums Leben kommen. Sie sind de facto ebenfalls Opfer der Machtpolitik Erdogans. Das haben die Angehörigen dieser Opfer genau erkannt, weshalb sie in Ankara und Istanbul gegen Erdogan demonstriert haben.
Ein kürzlich auf t-online-de veröffentlichtes Video zeigt, wie zwei IS-Kämpfer ungestört in der Istanbuler Tram unterwegs sind : Szenen, wie ich sie fast täglich hier erlebe, weil ich in diese Trambahn regelmässig benutze. Und jetzt plötzlich soll der IS den einzig sicheren Hafen, die Türkei, terrorisieren? Ich kann es , im Gegensatz zu vielen anderen EU-lern in Istanbul, einfach nicht glauben.
Es sei denn, innerhalb der IS-Führung gibt es mehrere Lager, die in der Bewertung der Türkei verschiedener Meinung sind. Dass der türkische Staatspräsident Erdogan die Religion nur benutze, um die Macht zu erhalten und auszubauen, ist ein alter Vorwurf einiger besonders radikaler IS-Imame.
Er rechfertigt aber nicht, dass der IS plötzlich der Türkei den Krieg erklärt. Vielmehr könnte der Terrorstaat darauf abzielen, die Türkei dazu zu zwingen, Farbe zu bekennen.
In den kommenden Tagen oder Stunden wird Russland die ersten Luftangriffe gegen IS-Stellungen in Syrien fliegen, womit der Konflikt in eine neue, gefährliche Phase tritt. Weil anzunehmen ist, dass Kremlchef Putin den Krieg gegen den Daesch ernster nimmt als dies bisher die USA getan haben, braucht der Terrorstaat einen Beschützer/Vermittler, der auf internationaler Ebene ernst genommen, beziehungsweise gefürchtet wird: nämlich die Türkei.
Bisher hat sich die Türkei immer auf die Seite der Sunniten im Iran und in Syrien gestellt und deshalb auch den IS begünstigt. Den syrischen Diktator Assad, den Russland und der Iran weiterhin verteidigen, hat Erdogan dagegen konsequent bekämpft.
Sollte der bevorstehende Luftkrieg zugunsten Russlands und somit Assads ausgehen, müsste sich die Türkei neu positionieren. Ihr einziges Ziel ist die Zuerkennung eines 80 Kilometer breiten Landstreifens an der türkisch-syrischen Grenze, der einen Keil zwischen die irakischen, syrischen und türkischen Kurdengebiete treiben und die Bildung eines autonomen Kurdenstaates verhindern soll.
Die Besetzung dieses Landstreifens rechtfertigt die Türkei mit der Unterbringung der zwei Millionen Kriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Sie werden zwar versorgt, doch sind und bleiben sie "Gäste" der Türkei. Die syrischen Flüchtlinge bekommen weder den Status von Flüchtlingen zuerkannt, noch werden ihnen reguläre Aufenthalts- oder Arbeitsgenehmigungen ausgestellt.
Sie sind nichts anderes als Geiseln, die als Druckmittel gegen Europa benutzt werden. Deshalb sind die Flüchtlinge in Richtung sicheres Europa aufgebrochen.