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Berge aus Stein

Feministische Geschichtsschreibung entdeckt neue Gesteinsschichten. Ein Gastbeitrag von Marlene Pardeller.

„... però credo che abbia a che fare con una certa poca dimestichezza con i propri sentimenti delle popolazioni o del nord o di montagna, come in questo caso.“ (Francesca Melandri über die hohe Selbstmordrate in Südtirol )

„Es ist eine sehr alte, sehr starke Wand, aus der niemand fallen kann, die niemand aufbrechen kann, aus  der nie etwas laut werden kann“ (Malina, 356), schreibt Ingeborg Bachmann ihren vorletzten Satz in Malina 1971. In Wien. Nach dem zweiten Weltkrieg, nach dem Wiederaufbau, inmitten der zweiten Frauenbewegung, während es die DDR gab. Wo Christa Wolf lebte und 1996 Medea schrieb. Nach dem Abebben der zweiten Frauenbewegung, nach Zusammenbrechen der deutschen demokratischen Republik. Medea: „Was da heranschlich, hatte gelernt, sich lautlos zu bewegen und nicht einmal einen Luftzug zu verursachen, besser noch als ich es kann, denn du hast mir sehr früh diese Art von Bewegung beigebracht, Mutter, die aus winzigen Nichtbewegungen besteht, und auch mit der Mauer zu verschmelzen hast du mich gelehrt – ich brauche das in meines Vaters Palast, sagtest du, ehe ich verstand, warum – ...“ (Medea, 22).

Von der Vernichtung wird der Aufenthalt in der Wand zur Kampftechnik – durch das Benennen wurde Beweglichkeit möglich. Diese ergreift Anita Pichler 1986. Haga Zussa. Die Zaunreiterin weiß um den Riss in der Wand. Und dass der Stein lebt. Das hat sie von Natalia Ginzburg gelernt. Nach der Resistenza hat sie die Adern in den Steinen sichtbar gemacht, durch die kaum noch Blut fießt in Le voci della sera von 1963. Die Wand hat einen Riss. „Der Stein fault unter der Schutzschicht aus Kunststof“ (Haga Zussa, 79), er ist organisch. Die Grenze zwischen Leblosigkeit und Lebendigkeit ist nicht mehr eindeutig ziehbar. Das weibliche Ich, das nach dem Krieg zu Stein ward in die Mauer gebannt, das aus der Landschaft kam, die aus Menschenknochen entstanden ist aus „der Sage der Geburt der Landschaft aus den Knochen der Menschen“ (Haga Zussa, 83) - dieses Ich, das bei Bachmann in der Wand verschwindet und bei Christa Wolf das Unsichtbar Werden als Überlebenstechnik lernt ist bei Anita Pichler eines, das sprechen kann, Fragen hat, sucht und benennt: „Warum hängen sie immer ein Kreuz an die Wand? Nichts als ein Kreuz in der weißen Fläche, wie ein Riß, wenn man sich in Dornen verfängt … Und als Aussicht nur ein Schlüsselloch. Einmal gab es einen Platz zum Bleiben. Einen nicht versperrten, nicht verschlüsselten Raum“. Dieser Raum, der bei Virgina  Woolf „eigenes Zimmer“ hieß (A room of one's own, 1929), wird bei Anita Pichler zum zu findenden „Ort“ (Haga Zussa, 49).


Die besprochenen Autorinnen im Bild

Nicht nur das bröckelnde, sondern auch das verfaulende Gestein nehmen die Autorinnen wahr, langsam schreiben sie sich zum Weggemauerten, zum für tot Erklärten und entdecken ein Leben darin. Das nicht gehört wurde, um die altbekannten Einteilungen der Wahrnehmungen nicht zu gefährden. Hinter der Wand ist nur Wand, Statuen sind aus Stein Gemeißeltes. Durch die Etablierung der Wand als literarischer Figur, in welcher sich ein Sprechendes findet, haben Bachmann, Pichler und Wolf es geschafft, eine abwesende, aber immer mitschwingende Geschichte zu erzählen, die nicht ergänzend funktioniert, sondern die Auslassung beschreibt. Prosaische Erzählweise gebündelt mit Traumelementen, inneren Überlegungen und Fetzen aus einer historisch situierbaren Zeit bringen die Gewissheit der Erzählung ins Wanken: Wer erzählt was eigentlich und warum? Fragen, die zum Ausgelassenen zurückführen, indem der Inhalt der Erzählung den Grund der Auslassung beschreitet. Durch das Verknüpfen von Erinnerungsfetzen und Gegenwartsbeobachtungen. Daraus entsteht das Ich, nicht aus Stein, sondern geronnen durch die Zeiten, die es als seine erkennt: „Sie weiß genau, dass dieses Drama (Beginn des ersten Weltkrieges, Anm.) sie sehr wohl betrifft ...“ (Ereditá, 87). Dieses Ich kann sprechen.

Lilli Gruber schreibt 2012 Ereditá. Die Erforschung ihrer eigenen Familiengeschichte. In italienischer Sprache. Lilli Gruber hat sich die Aufzeichnungen aus der Wand angeschaut, das Tagebuch ihrer Ururgroßmutter Rosa Tiefenthaler aus Pinzón. So liegt erstmals eine Geschichte Südtirols vor, welche über konkrete Menschenleben erzählt, es schafft, einiges an Entwirrung in die ansonsten von so vielen als geheimnisvolle Region bezeichnete Gegend zu bringen, da klar wird, welche sich widerstreitenden Strömungen das Land durchfließen und wo diese entstanden sind. Denn Lilli Gruber beginnt die Geschichte nicht mit 1918 und dem Ende des ersten Weltkrieges, sondern um einiges früher, als dem italienischsprachigen Teil kaum Schulbildung in der eigenen Sprache unterm Kaiser gewährt wurde. Dafür greift sie nicht auf eine offizielle Geschichtsschreibung zurück, sondern auf Tagebuchaufzeichnungen eines individuell gelebten Lebens.
So eröffnet sich ein neuer Blick auf die Geschichte eines Landes und seine Bewohner und Bewohnerinnen, die sie aus dem privaten Bereich mit der gesellschaftlichen Sphäre in Verbindung setzt und ihre eigenen Erfahrungen darin einzuordnen sucht. Der treibende Motor ist der des Verstehens, nicht des Urteilens. Damit werden nationale Verhärtungen beschreibbar und nicht in der Erzählung verdoppelt oder bestätigt. Dieses Buch eröffnet die Möglichkeit, sich mit der Landesgeschichte Südtirols auseinanderzusetzen, dem italienischen, deutschen, ladinischen Erbe, das nicht in nationalen Zugehörigkeiten aufgeht. Die Methode der feministischen Geschichtsschreibung, die auf das Zuhören und Ernst nehmen der gelebten Erfahrungen zurückgreift, diese Methode, die von Bachmann, Pichler und Wolf entwickelt wurde, diese Methode, die ohne Virginia Woolf wenig Insistierendes und Bestärkendes hätte, hat eine Geschichte Südtirols ermöglicht, in der Lilli Gruber zum Schluss kommt, die Frage, welcher alle Südtiroler und Südtirolerinnen irgendwann begegnen: „Fühlst du dich eher als Italienerin oder eher als Deutsche“ mit „Ich fühle mich als Europäerin“ (Ereditá, 162) zu beantworten. In Grubers Augen eine „perfekte“ Lösung. Bleibt zu hoffen, dass die nationalistischen Tendenzen in Europa diese Erwiderung nicht völlig verunmöglichen.

Literatur:
Bachmann, Ingeborg Malina, 1971
Ginzburg, Natalia Le voci della sera, 1961
Gruber, Lilli Ereditá, 2012
Melandri, Francesca Eva Dorme, 2010
Pichler, Anita Haga Zussa, 1986
Wolf, Christa Medea, 1996
Woolf, Virginia A room of one's own, 1929