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Wohnen mit Lyla

Die WG „Lyla“ ist ein Beispiel dafür, wie private, klein strukturierte und innovative Betreuungseinrichtungen effizient und gleichzeitig nah am Menschen agieren können.
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Foto: Georg Hofer
In Brixen leben vier psychisch kranke Frauen in einer Wohngemeinschaft. Eingebunden in ein familiäres Umfeld erfahren sie die benötigte Betreuung, ohne auf einen selbstbestimmten Alltag zu verzichten.
In der hellen Vier-Zimmer-Wohnung herrscht eine entspannte Atmosphäre: Mitbewohnerin Mabel ist gerade von ihrem Mittagsschläfchen aufgewacht und stapft vom Wohnzimmer in die Küche, wo schon der Nachmittagskaffee auf sie wartet. Wally verziert auf dem Küchentisch mit Holzfarben ein Briefkuvert. Am Tisch sitzt auch Mathilde Hinteregger, die in einer Tasse rührt. Die 54-jährige Krankernpflegerin hat die WG mitbegründet. Sie ist neben Ihrer Kollegin, einer Sozialbetreuerin, eine von zwei Angestellten. Eine Ehrenamtliche, die tagsüber auswärts arbeitet, kann unentgeltlich in der Wohnung schlafen und deckt somit die Präsenz während der Nachtstunden ab.
 
 
Wie ist das Wohnprojekt entstanden?
 
Mathilde Hinteregger:Eigentlich aus einer konkreten Bedarfssituation heraus. Die Besitzerin der Wohnung hatte plötzlich einen erhöhten Pflegebedarf und Schwierigkeiten damit, eine Pflegerin zu finden. Im Sozialsprengel wusste man von mehreren Personen in einer ähnlichen Situation. Inspiriert von bestehenden Wohnprojekten in Skandinavien und im Austausch mit dem Zentrum für Psychische Gesundheit (ZPG) und dem Haus der Solidarität entstand eine konkrete Idee. Als Krankenpflegerin stand ich vor einer beruflichen Veränderung und war von der Idee sehr angetan.
 

Welche Schritte führten zur Gründung?

 
Am Anfang stand natürlich die Frage nach der rechtlichen Form. Wir konnten uns ja nicht an einem bestehenden Beispiel orientieren. Es kam zu mehreren Treffen mit dem Haus der Solidarität, das in der Folge die Trägerschaft für das Projekt übernahm. Das war aus versicherungstechnischen Gründen wichtig. Unsere Klientinnen sind besachwaltert, also galt es auch das Vertrauen der Sachwalter*innen zu gewinnen, die letztendlich für das Wohl der Frauen verantwortlich sind. Auch der Informationsaustausch und die Zusammenarbeit mit Partnern wie dem ZPG, dem Sozialsprengel und der Anlaufstelle für Grundfürsorge ermöglichte die Gründung der WG.
 
 
Wie finanziert sich das Projekt?
 
Die Kosten für Personal, Verpflegung und die Wohnungsspesen werden durch die Monatsbeiträge der Klientinnen getragen. Das Wohnprojekt wird nicht durch die öffentliche Hand unterstützt, was Vor- und Nachteile hat. Wir können einerseits frei, unabhängig und selbstgestalterisch arbeiten, müssen aber selber sicherstellen, dass es sich finanziell ausgeht. Dass eine der Frauen die Eigentümerin der Wohnung ist, kommt uns natürlich auch zugute.
 
Wer sind die Frauen, die hier leben?
 
Derzeit wohnen vier Frauen im Alter zwischen 35 und 62 Jahren in der WG. Sie sind alleinstehend oder können innerhalb ihrer Familien nicht adäquat betreut werden. Eigentlich führten die Frauen alle ein gewöhnliches Leben und waren berufstätig. Bis zu einem bestimmten Punkt, an dem eine Krankheit oder ein Unfall alles veränderte.
 
Mitbewohnerin Mathilda steht am Herd und schält Äpfel. Vor ihrer Erkrankung arbeitete sie viele Jahre als Haushälterin auf einem großen Bauernhof. Mit geübten Handgriffen zerteilt sie die Früchte in gleichmäßige Stücke und lässt sie in einen Topf mit Wasser fallen. Am Abend gibt es Apfelkompott zum Nachtisch. Die Frauen können viele Aufgaben des Alltags selbst verrichten. Die Förderung von Eigenständigkeit und die Möglichkeit, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, spielen im Wohnprojekt „Lyla“ eine wichtige Rolle.
 
Wie sieht ein Tag in der WG aus?
 
Gegen acht Uhr komme ich oder meine Kollegin in die WG und wir bereiten mit den Frauen das Frühstück zu. Nach der Morgentoilette und den anfallenden Aufgaben im Haushalt machen wir einen Spaziergang an der frischen Luft. Wir erledigen Einkäufe und kleinere Behördengänge. Wieder zuhause, kochen wir gemeinsam das Mittagessen. Danach machen wir Pflegerinnen eine Pause, bleiben aber telefonisch erreichbar. Am Nachmittag gibt es wieder eine kleine Stärkung und je nach Wetterlage gehen wir vor dem Abendessen nochmal an die Luft oder widmen uns verschiedenen Handarbeiten.
 

Was hat es mit den Handarbeiten auf sich?
 
Die Frauen sind gerne tätig und können bei verschiedenen Aufgaben ihre Fähigkeiten einbringen. Wir machen Faltschachtelarbeiten für eine Bäckerei oder derzeit verzieren wir zum Beispiel Briefkuverts. Das bringt Abwechslung in den WG-Alltag und gleichzeitig helfen wir dadurch einer Einrichtung, die wiederum uns sehr unterstützt.
 
Wo werden in der Regel Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen untergebracht?
 
Das ist eine schwierige Frage. Genaugenommen ist die Psychiatrie nicht unbedingt der optimale Platz für alle psychisch kranken Menschen. Auch ein Seniorenheim oder ein Pflegeheim ist im Hinblick auf das Alter, aber auch die Verfassung solcher Menschen nicht immer eine Option. Das besondere an „Lyla“ ist eben, dass es eine WG in einer ganz gewöhnlichen Wohnsiedlung ist, also mitten in der Gesellschaft. Die Frauen werden zwar professionell betreut, sind aber trotzdem in den Alltag der Stadt eingebunden. Sie leben nicht abgeschottet in einer großen Einrichtung, wo ein derlei individuelles Wohnen und Leben nicht möglich ist‘.
 
 
Auf welche Erfahrungswerte Blicken sie nach drei Jahren „Lyla“ zurück?
 
Ich finde es erstaunlich, wie sich die Frauen entwickelt haben. Sie sind förmlich aufgeblüht und zu einer Art Familie zusammengewachsen. Eine der Frauen sprach Anfangs nur Englisch. Die andern traten ihr völlig unvoreingenommen entgegen und fanden schnell einen Draht zu ihr. Der geregelte Tagesablauf und die Geborgenheit geben ihnen Halt. Ich sehe, dass sie hier einen erfüllenden Alltag leben können und sich wohlfühlen – sei es in der Gemeinschaft als auch als einzelne. Die Frauen brauchen keine Schlaftabletten mehr. „Lyla“ stieß als neuartiges Wohnprojekt anfangs auch auf Skepsis. Das breite Interesse am Projekt zeigt aber, dass es vielleicht eine gute und vergleichsweise einfache Alternative zu manch anderer Form der Unterbringung sein kann. 
 
Der Name „Lyla“ geht auf den Spitznamen der Wohnungseigentümerin, Lydia, zurück. Bevor ihre Mitbewohnerinnen einzogen, tat sich Lydia mit dem Kontakt zu anderen Menschen schwer und einige, die sie kannten, zweifelten an der Machbarkeit der Idee „Lyla“. Mathilde Hinteregger erzählt, dass sich Lydia mittlerweile sehr mit der Frauengemeinschaft identifiziert. Als vor einigen Tagen Mitbewohnerin Mabel später als üblich von ihrem Spaziergang nach Hause kam, war Lydia in Sorge und befürchtete, dass sie nicht mehr wieder kommen könnte.