Culture | Salto Afternoon

Ruinenliebhaber

Im Rahmen der Ausstellung DETROITANIC kommt es zum Gespräch zwischen dem Künstler Peter Senoner und dem Kunstkritiker und Ruinenliebhaber Morgan Meis. Ein Vorgeschmack.
Peter Senoner Ausstellung
Foto: Gallerie Ghetta

salto.bz: Woher stammt Ihre Faszination für Ruinen?
Morgan Meis: Seit meiner Kindheit interessiere ich mich für Ruinen. Ich war ziemlich jung, etwa elf Jahre alt, als ich mit meinen Eltern durch Europa reiste und dort zum ersten Mal antike und mittelalterliche Ruinen besucht habe. Ruinen geben einen das Gefühl als ob man aus der Zeit fallen würde. Sie lassen einen Geschichte auf ganz besondere Art und Weise erfahren. Es haftet ihnen ein gewisse Traurigkeit und Melancholie an und doch scheinen sie mir lebendiger als viele intakte Gebäude sind. Deshalb haben mich auch immer Menschen - Künstler, Schriftsteller, Philosophen – interessiert, die sich mit Ruinen auseinandersetzen.

Ruinen können uns ein tieferes Verständnis unserer Lebensbedingungen vermitteln.

Die Romantiker des frühen 19. Jahrhunderts sahen in den Ruinen lebendige Bestandteile einer Geschichte, die sich wieder herstellen ließe. Welche Art von Wissen, denken Sie, können Ruinen heute vermitteln?
Ich denke es gibt verschiedene Möglichkeiten Ruinen anzusehen. Mich interessiert besonders Walter Benjamins theoretischer, geschichtsphilosophischer Versuch im Passagenwerk der Ruinen und Fragmente habhaft zu werden. Es besteht die Gefahr Ruinen nur als Vehikel der Nostalgie und der Sehnsucht nach etwas Vergangenem, Authentischem zu betrachten. Ich sehe sie nicht als kohärente oder authentische Dinge einer verlorenen Vergangenheit, in die wir zurückkönnten. Vielmehr sind sie eine Erinnerung daran, das alles „ruiniert“ ist. Das die Fragmente niemals zu einem ganzen zusammengesetzt werden können, sondern das wir Zeit, Geschichte, Erinnerungen unsere eigene Identität und unser Leben fragmentiert ist. Wir werden immer versuchen die Dinge zusammenzuhalten, aber wir werden auch immer wieder daran scheitern und das ist ok. Ich denke, dass hat viel mit dem Kunst schaffen gemein. Ruinen können uns ein tieferes Verständnis unserer Lebensbedingungen vermitteln.

Walter Benjamins Philosophie der Geschichte verfolgte mit ihrem materialistischen Ansatz eine klare politische Agenda. Für ihn kam den Ruinen oder Fragmenten dabei eine außerordentliche Rolle zu. Könnten die Ruinen von Detroit zu einem Erwachen aus dem Dornröschenschlaf im neoliberalen kapitalistischen System beitragen?
Die historischen Traumata, die zum Verfall der Stadt geführt haben sind in Detroit, im Vergleich zu anderen amerikanischen Städten, unmittelbarer sichtbar und erfahrbar. In Detroit wurden diese viel weniger kaschiert und zugepflastert. Die Schwierigkeiten und der Aufruhr in Detroit sind materiell fassbar. Die historische Ereignisse starren einem ins Gesicht, wenn man durch die Stadt fährt. Das könnte zu einer historischen Erkenntnis führen, da man der Geschichte und den Erinnerungen nicht ausweichen kann, bringt aber nicht unbedingt progressives politisches Denken mit sich. Städteplaner und -forscher sagen der Bevölkerungsrückgang der Stadt hat ein Ende gefunden und auch wirtschaftlich gibt es einen Aufschwung. Vor kurzem standen in Downtown Detroit noch ganze Wolkenkratzer leer. Nun werden einige davon restauriert und wieder Teil des Immobilienmarkts. Das passiert größtenteils auf Anstoß von Dan Gilbert, dem Gründer und Eigentümer von Quicken Loans, eines der größten Online-Hypothekenfinanzierer der USA. Es wird geschätzt, dass ihm um die fünfzig Prozent der Immobilien in der Innenstadt gehören. Das allein spricht Bände. Berechtigterweise kommen jetzt auch Diskussionen über Gentrifizierung auf.

Detroit verändert sich rasant, aber zu wessen Vorteil?

Detroit vermarktet als einzige Stadt in Den USA ihren eigenen Verfall. Viele Gegenden sind zu beliebten Drehorten für Hollywood geworden und der Ruinentourismus boomt. Auch für Künstler ist Detroit zu einem Anziehungspunkt geworden. Wie beurteilen Sie die künstlerische Auseinandersetzung mit dieser Ästhetik des Verfalls?
Die künstlerische Auseinandersetzung mit den Ruinen in Detroit ist unumgänglich und sie führt zu einer breiteren politischen und ästhetischen Diskussion. Wobei das Verhältnis zwischen Kunst und tatsächlich gelebter Erfahrung immer neu ausgelotet werden muss. Das kulturelle Leben in Detroit kann aber nicht auf die Ruinen reduziert werden. Ich lebe jetzt schon eine ganze Weile hier und ich bin manchmal immer noch schockiert von den physischen Zeichen, den Wunden und Schmerzen der ökonomischen Entwicklung, die man hier buchstäblich gezwungen ist zu sehen. Die Realität des historischen Prozesses der USA, der Niedergang der industriellen Gesellschaft, ist hier im sogenannten Rostgürtel erfahrbar. Erfahrungen dieser Art präsentieren sich zuerst als Schock, der wie Proust und in Anlehnung an ihn auch Benjamin schreibt, unterdrückt wird. Erst im Nachhinein, auch in ihrer künstlerischen Reflexion, kann man ihren vollen Gehalt und ihre Auswirkungen begreifen. Detroit ist für mich eine Art tickende Erfahrungszeitbombe. Ich finde es sehr wichtig, sich mit dieser sozialen und urbanen Realität auseinanderzusetzen. Deshalb lebe ich hier. Ich will nicht, dass diese Geschichte verloren geht.