Culture | Salto Arts

Räume Gegenräume Wunschräume. On Landscapes of desire

Michael Obrists kritische Reflexion über den Virgl beschließt die Textreihe zum Projekt VIRGOLO FUTURE INSTITUTE, dass noch bis morgen in der ar/ge kunst zu sehen ist.

Der Virgl ist ein zentral liegender Raum in Bozen, der bei erster schneller Betrachtung wie eine kleine Akropolis über dieser Stadt liegt, aber aufgrund der sehr schwierigen Zugänglichkeit dennoch paradoxerweise peripher bleibt. „So close, but far away“, um einen Titel eines der Filme von Wim Wenders umzudrehen. Der Virgl ist ein Raum, der „da“, aber kaum präsent ist.

Alle paar Jahre taucht er jedoch wieder auf, in Form von Bildern, welche in eine mögliche Zukunft des Virgls weisen. Und wieder und wieder werden wir Zeugen des darauffolgenden Rituals des nur reaktiven „Ja“ oder „Nein“-Sagens der Bürger, welches den Hauch der Resignation schon mit sich trägt.

Es werden Bilder des Begehrens geweckt, und wir finden uns wieder in Welten, von denen wir vorher nicht wussten, dass wir sie brauchten. Das ist an sich nichts Schlimmes und ein alltägliches Phänomen, ein Großteil des Erfolges der größten börsennotierten Unternehmen weltweit basiert auf diesem Grundgedanken.

Es wirft nicht unbedingt gleich die Frage nach den falschen Verführern auf, denn auch vieles von dem, was wir ursprünglich nicht wussten oder gar brauchten, scheint uns heute als notwendig, da sie essentieller Baustein einer rund um sie entwickelten Gesellschaft wurden. Ein Großteil der bahnbrechenden Erfindungen, die uns umgeben, beruhen nicht nur auf der in letzten Jahren fast schon mystifizierten Schwarmintelligenz, sondern auf der Leistung einzelner Pioniere und Querdenker.

Nicht umsonst zitierte Steve Jobs mit Freude Henry Fords Bonmot: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wirklich wollen, hätten sie geantwortet: Schnellere Pferde.“

Doch vieles von dem, was uns umgibt, ist das Resultat schnell geweckten, billigen Begehrens, fast schon einer programmierbaren Mechanik der Verführung unterworfen, die mit unseren einfachsten Trieben spielt.

Wie erkennen wir nun das Eigentliche vom Un-Eigentlichen?

Der Virgl ist ein Raum in Transformation, definiert von Naturraum, brachliegender Infrastruktur und einer Vielzahl unbenutzter Räume. Er ist primär von einem Mangel definiert, also einer „Freiheit von etwas“. In diesem Mangel liegt aber auch das Versprechen einer „Freiheit zu etwas“. Der Virgl ist folglich noch ein großer Möglichkeitsraum. Er ist individuell belegt mit Wünschen, Erfahrungen, Wissen um Geschichten und möglicherweise auch mit Sehnsüchten, den Großteil der Menschen interessiert er im Grunde im Moment nicht viel. Wenn es wirklich einen tiefen kollektiven Wunsch gäbe, ihn zu verändern, wäre dies wohl schon längst geschehen.

Oder schlummert da noch etwas in uns, und es wäre unsere Aufgabe, dies an die Oberfläche zu bringen?

Der Virgl ist momentan nicht hegemonial belegt. Interessensgruppen tauchten immer wieder auf, aber momentan werden die Räume wie selbstverständlich von Menschen benutzt, die in der Absenz von definierten Nutzungen eine Möglichkeit der Entfaltung finden. Der fast schon unerkennbare Aufgang zum Virgl ist momentan sein Schutz – „Stell dir vor, es gibt einen kleinen Berg, und keiner findet die Straße, die auf ihn hinaufführt...“. Rund um diesen Zustand – seine schwierige Erreichbarkeit, und seine Funktionslosigkeit, hat sich eine ganz eigene Art der temporären „Besetzung“ und Bespielung dieser Räume entwickelt. In einer Serie von Hausbergen und Hügeln, die Bozen umgeben, und die jeweils eine andere Rolle spielen – der großbürgerliche Ritten, das vormals bäuerliche, nun aber in Transformation begriffenen Jenesien, das exklusivere Kohlern, hat sich der Virgl als ganz eigener, unbestimmter, wiederum wilderer freier Raum entwickelt. Jede neue Erschließung und Veränderung in einen Erlebnispark mit Aussicht würde den Konsumgedanken an die Landschaft verstärken.

Konservierung und Erneuerung sind zwei Seiten derselben Medaille; das heute Neue wird zum Schützenswerten von Morgen, das Schützenwerte und zu Konservierende von Heute war die Erneuerung von Gestern. Dies gilt für Architekturen wie für Landschaften.

Gibt es eine Möglichkeit, beide Elemente zu berücksichtigen, also Gebiete weiterzuentwickeln, aber gleichzeitig auch Bewahrtes zu erhalten, und zudem den Emanzipationsgedanken einzuführen - sie also mit solch einem Nutzungsangebot zu belegen, die uns nicht nur zu passiven Konsumenten, sondern zu aktiven Nutzern von Räumern erzieht?

Hakim Bey beschreibt in seinem 1991 erschienenen Buch „T.A.Z.: The Temporary Autonomous Zone“ den Versuch einer temporären anderen Ordnung. Die Zone ist mehr eine Situation als ein Ort, obwohl lokalisierbar, dennoch potentiell fluid, und in konstantem Wechsel. Sie ist im Gegensatz zum Heterotopie-Begriff, den der französische Philosoph Michel Foucault eingeführt hat, nicht ein „anderer Raum“ in der Gesellschaft, in welcher die herrschende Gesellschaftsordnung außer Kraft gesetzt ist bzw. Sonderformen einer sozialen Situation herrschen, und nicht zwingend genau lokalisierbar: Heterotopien sind für Foucault „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“ (Foucault) Die Temporäre Autonome Zone ist ein Raum in der Zeit, mehr Situation als spezifischer Ort, dennoch physisch lokalisierbar, wo die Ordnungen, die den Alltag dominieren, kurzfristig oder auch länger außer Kraft gesetzt werden, Menschen gemeinsame, überraschende, vielleicht sogar mystische, anarchistische, surrealistische, gegen den Strom laufende, situationistische, (hier frei ergänzbar: ...) Erfahrungen machen, wo eine andere Möglichkeit einer Strukturierung der Gesellschaft gedacht oder gar vorgelebt wird. Die Temporäre Zone hat für Bey den Modus einer Enklave. Sie ist eingebunden in ein größeres System, doch autonom. Im Gegensatz zu den historischen Revolutionen, die stets das System verändern wollten und so ein neues schufen, welches neue Unfreiheit mit sich bringe, plädiert er mit der Temporären Zone für einen Aufstand, der selbst die Erfüllung seiner eigenen Forderungen ist.

Am Virgl sind momentan mehrere Räume überlagert. Ein paar dieser sozialen Räume, die sich am Virgl entwickelt haben, sind fragil, ein paar sind möglicherweise resilient. Jede neue Entwicklungsstrategie könnte bereits etablierte Nutzungsformen berücksichtigen, um daraus eine stärkere Verbindung mit dem bestehenden Kontext zu generieren. Ob dies immer gelingt, ist fraglich, und vielleicht auch nicht notwendig. Denn möglicherweise liegt es in der Natur dieser „anderen“ Räume, dass sie auftauchen und verschwinden, und immer wieder als Nischen in unserem System der effizienten und definierten Räume auftauchen. Es gilt nur „einzutauchen“ und sie zu nutzen, wenn sie sich vor einem öffnen.

Michael Obrist (geb.1972 in Bozen) ist Architekt in Wien und Gründungmitglied und Partner des Büros feld72. Zahlreiche Lehraufträge an verschiedenen Universitäten, u.a. seit 2014 Gastprofessor für raum&design strategien an der Kunstuniversität Linz.

VFI – Virgolo Future Institute
(Such Claims on Territory Transform Spatial Imagination Into Obscure Anticipations of Repartition)

CAN ALTAY : 14. Mai – 30. Juli 2016