Società | Flüchtlinge

"Hier wird der Kopf in den Sand gesteckt"

Die Freiwilligen am Bozner Bahnhof haben sich an den Arzt Maximilian Benedikter gewandt. Sie wissen nicht mehr weiter. Er fordert: "Es braucht strukturelle Antworten."

Bald zwei Monate ist es her, dass die ersten Freiwilligen am Bozner Bahnhof begannen, sich um die ankommenden Flüchtlinge zu kümmern. Unterstützung bekommen sie vor allem aus der Zivilgesellschaft. Was fehlt, ist nach wie vor professionelle ärztliche Hilfe für die Durchreisenden. Von denen kaum jemand bereit ist, den Bahnhof zu verlassen. Auch nicht, um im Krankenhaus behandelt zu werden. In ihrer Ratlosigkeit wenden sich die Helfer an jene, von denen sie sich mehr Hilfe erhoffen, als sie die Institutionen an den Tag legen. Wie etwa an den Arzt Maximilian Benedikter. Er arbeitet als Anästhesist am Bozner Krankenhaus und hat als ärztlicher Verantwortlicher des Ambulatorio STP langjährige Erfahrung mit Flüchtlingen.

Herr Benedikter, warum haben sich die Freiwilligen an Sie gewandt?
Man kennt mich in gewissen Kreisen. Ich bin einer der Ärzte, die das Ambulatorio STP (Ambulatorio per Stranieri Temporaneamente Presenti – Ambulatorium für Migranten, die sich zeitweise im Territorium aufhalten, Anm. d. Red.) am Krankenhaus Bozen aufgebaut haben. Daher haben sich die Freiwilligen bei mir gemeldet und gefragt, ob ich etwas tun kann.

Inwiefern? Mit welchen Fragen beziehungsweise Sorgen sind die Helfer an Sie herangetreten?
Vergangene Woche wurde ich wegen zwei Fällen, in denen der Verdacht auf Krätze bestand, kontaktiert. Grundsätzlich ist es so, dass die Freiwilligen nicht wissen, wie sie die Flüchtlinge, die auf der Durchreise sind, schützen und beschützen können. Etwa, wenn sie bemerken, dass jemand an Hautkrankheiten wie eben Krätze leidet.

Vor gut einem Monat hat Landesrätin Martha Stocker, unter anderem auch auf Druck der nicht organisierten Freiwilligen, einen Koordinierungstisch zum Thema “Flüchtlinge” eingerichtet. Damals wurde das Rote Kreuz beauftragt, sich der medizinischen Versorgung am Bozner Bahnhof anzunehmen. Das Problem scheint aber keineswegs gelöst zu sein?
Es gibt nach wie vor keine Möglichkeit, Krankheiten wie Krätze vor Ort zu behandeln. Es fehlen die Ressourcen. Die Freiwilligen, die vom Roten Kreuz zum Bahnhof geschickt werden, sind zum Großteil keine Krankenpfleger, geschweige denn Ärzte. Dabei wäre ein Arzt vor Ort dringend notwendig. Dessen sind sich mittlerweile alle Freiwilligen, sowohl die nicht organisierten als auch jene von Volontarius bewusst. Am Sonntag wurde ich von Volontarius gefragt, ob ich nicht bereit wäre, als freiwilliger Arzt einen Dienst am Bahnhof zu leisten.

Ihre Antwort?
Ich habe mich nicht dazu bereit erklärt. Denn es gibt bereits spezifische Kompetenzen, die zur Verfügung gestellt werden könnten und müssten.

Mir wurde berichtet, dass die Freiwilligen und das Rote Kreuz den Vorschlag gemacht haben, einen Arzt vom Hygienedienst an den Bahnhof zu holen. Dafür sind sie angeblich am Koordinierungstisch ausgelacht worden.

Und warum ist das nicht längst schon passiert? Dass die Situation am Bahnhof für die Freiwilligen allein nicht zu bewältigen ist, ist ja nicht erst seit gestern bekannt.
Es braucht eine strukturelle Antwort. Es kann nicht sein, dass es keine fachlich qualifizierte Antwort gibt, wenn ein begründeter Verdacht auf hygienische Probleme besteht. Ich sehe hier ganz klar ein Problem im System, ein Problem des Gesundheitsassessorats. Doch die Antwort ist, den Kopf in den Sand zu stecken und die moralische Verantwortung für eine nicht behandelte Hautkrankheit dem Patienten selbst zuzuschieben.

Wie ist das zu verstehen?
Es gäbe ja die Möglichkeit, dass sich kranke Personen im Krankenhaus Bozen behandeln ließen. Die meisten Flüchtlinge weigern sich aber, den Bahnhof zu verlassen. Sie wollen weiterreisen. Und anstatt Hilfe vor Ort anzubieten, schaut das Gesundheitsassessorat weg. Ganz nach dem Motto: “Wer sich nicht im Krankenhaus behandeln lassen will, ist selbst Schuld.” Dabei wäre es nicht schwer, die Situation zu lösen.

Die kritische hygienische Situation wird ein Argument mehr für ausländerfeindliche Haltungen liefern. Verschuldet von den Institutionen.

Was braucht es Ihrer Meinung nach also konkret?
Was es bräuchte ist, schon bestehende Dienste in die Koordination mit einzubeziehen. Ganz konkret: das Amt für Hygiene und öffentliche Gesundheit. Es würde reichen, wenn ein Arzt vom Hygienedienst ein oder zwei Mal täglich zum Bahnhof kommt, um sich einen Überblick zu verschaffen und eventuelle Hautkrankheiten zu behandeln. Denn, wie gesagt, es gibt am Bahnhof weder Fachpersonal noch Medikamente und die dürfen ja auch nur von Ärzten verschrieben werden. Von den Institutionen wurden keinerlei Ressourcen zur Verfügung gestellt.

Mit “Institutionen” meinen Sie das Gesundheitsassessorat?
Nicht nur. Denn wer ist denn verantwortlich für die öffentliche Gesundheit und Hygiene am Bahnhof Bozen? Der Bürgermeister. Doch momentan versehen immer noch ausschließlich Freiwillige den Dienst am Bahnhof. Und diese haben keinerlei Anhaltspunkte. Es braucht, ich wiederhole es, eine strukturelle Antwort. Es ist einfach nicht nachvollziehbar, dass die Antwort der Institutionen ein “Ich schau weg, ich will nicht” ist. Denn damit wird eine weitere Gefahr heraufbeschworen.

Ich sehe hier ganz klar ein Problem im System, ein Problem des Gesundheitsassessorats.

Ja?
Wenn sich die institutionellen Verantwortlichen weigern, ihren Teil beizutragen, wird das hygienische Problem für die Bevölkerung nicht gelöst werden. Sondern jene politischen Bewegungen und Parteien werden Aufwind bekommen, die wie die Lega bereits am Bahnhof gegen die Flüchtlinge protestiert haben. Die kritische hygienische Situation wird also ein Argument mehr für ausländerfeindliche Haltungen liefern. Verschuldet von den Institutionen.

Alle, die an der Versorgung der Flüchtlinge am Bozner Bahnhof beteiligt sind, scheinen sich der Brisanz der Lage bewusst zu sein. Einzig von öffentlicher Seite hört man nach wie vor, es sei alles in Ordnung. Ist die Verantwortung durch die Beauftragung von Volontarius und Rotem Kreuz nicht auf eben diese übergegangen?
Das ist für mich kein Argument. Delegieren allein reicht nicht. Wer delegiert, muss auch kontrollieren, ob die Arbeit, will sagen, die Ressourcen und Kompetenzen wirklich dort vertreten sind, wo man sie braucht. Und es ist mehr als legitim, institutionelle Dienste und Ressourcen, die bereits da sind, auch einzusetzen. Doch es fehlt die Bereitschaft. Mir wurde berichtet, dass die Freiwilligen und das Rote Kreuz bereits den Vorschlag gemacht haben, einen Arzt vom Hygienedienst an den Bahnhof zu holen. Dafür sind sie angeblich am Koordinierungstisch ausgelacht worden.