Ist der Zug bereits abgefahren?
Die Wahlschlacht ist geschlagen. Der Kampf und der Einsatz am Bozner Bahnhof hingegen geht weiter. Denn die Flüchtlinge scheren sich nicht um Wahlen, niemand interessiert es, wer in Zukunft die Geschicke der Stadt lenken wird, in der sie nach wie vor stranden. Und auch die politische Instrumentalisierung ihrer Misere außerhalb des Bahnhofs schert sie nicht. Sie wollen nach wie vor nur eines: weiter nach Norden reisen. Am Dienstag sind erneut viele von ihnen dort angekommen, wo sich nun bereits seit einigen Wochen fast täglich Dramen abspielen. Dreihundert seien es zwei Tage nach den Wahlen gewesen, berichten die Medien. Um die hundert, sagen die, die es wissen müssen.
Denn nach wie vor kümmern sich vorwiegend Freiwillige aus der Zivilgesellschaft um die Menschen, die vom Bahnhof der Landeshauptstadt aus versuchen, irgendwie nach Deutschland oder weiter zu kommen. Einer, der seit Beginn der Hilfsaktion in Bozen mit dabei ist, ist Armin Mutschlechner. Der Jugendarbeiter und Aktionskünstler berichtet beinahe täglich auf seinem Blog. “Gegen 9.30 Uhr ist das Rote Kreuz gekommen”, so liest man in seinem Eintrag vom 12. Mai. Doch bereits kurz nach 8 Uhr sind an die 85 Menschen am Bahnhof. Versorgt werden sie von den freiwilligen Helfern des Vereins Volontarius und jenen, die nicht müde werden, Tag für Tag zum Aufenthaltsraum am Gleis 1 zu kommen.
Wie weit kann ein Freiwilliger gehen?
Wie Eliana. Die gebürtige Brasilianerin mit italienischen Wurzeln steht jeden Tag um 5 Uhr auf, packt den selbst gebrühten Tee und Kaffee sowie weitere Dinge in ihren Einkaufstrolley und macht sich auf den Weg zum Bahnhof. Des öfteren schon hat sie lautstark auf die unerträgliche Situation aufmerksam gemacht. Auf ihren Druck hin hatten sich am Wochenende vor den Wahlen zwei EU-Parlamentarier von Forza Italia einen Eindruck von der Lage in Bozen verschafft. Nun haben sie einen Brief an Ministerpräsident Matteo Renzi geschickt, in dem sie ihn auffordern, umgehend die nötigen Maßnahmen zu treffen, damit sich am Bahnhof etwas ändere. Sie machen ihn mitverantwortlich für die dramatischen Szenen, die sich dort und am Brenner, dem “Lamepdusa del Nord”, wie sie ihn nennen, nach wie vor abspielen.
Monika Weissensteiner von der Alexander-Langer-Stiftung. Seit Monaten setzt sie sich unermüdlich und unentgeltlich für die Flüchtlinge ein.
Reichlich wenig wird dieser Brief jenen nützen, die seit Langem schon mehr Unterstützung von der Politik fordern. Es sind erneut die Freiwilligen, die Druck auf die Landesregierung ausüben. Gesundheits- und Soziallandesrätin Martha Stocker berief daraufhin einen runden Tisch ein. An dem sitzen neben Volontarius auch die Caritas, der Zivilschutz und zwei Vertreterinnen der Freiwilligen. Doch die Gespräche scheinen festgefahren. “Auch am Dienstag war noch immer keine professionelle Hilfe vor Ort”, berichtet Armin Mutschlechner. Die Freiwilligen organisieren sich immer noch über Facebook und WhatsApp. Was an Verpflegung, Kleidung und sonstigem fehlt, wird sofort gepostet. Und meistens auch sofort von einem der zahlreichen Helfer dorthin gebracht, wo es benötigt wird. Zum Gleis 1. Viele scheinen mit ihrem Rat am Ende zu sein. Wie lange will man weitermachen? Wie lange für die öffentliche Hand in die Bresche springen? Laut Medienberichten sind nun die ersten Fälle von Krätze am Bahnhof aufgetaucht. “Einige Polizisten tragen Handschuhe und Mundschutz, wenn sie Menschen mit dunkler Hautfarbe daran hindern müssen, Fernzüge zu besteigen”, beobachtet Mutschlechner. Selbstschutz.
Höchste Eisenbahn
“Die Situation ist mittlerweile am Limit”, klagt Mario Deriu im Gespräch mit dem Alto Adige an. Als Generalsekretär der Polizeigewerkschaft Siulp weist Deriu inzwischen seit Monaten auf die unhaltbaren Zustände hin. Er fordert eine Aufstockung des Polizeipersonals. Doch jetzt wird ihm mitgeteilt, dass einer seiner Beamten von der Einwanderungsstelle abgezogen wird. Er wird in Mailand bei der EXPO benötigt. Es ist wahrlich zum Mäuse Melken. Ein Kreisel, der sich immer schneller zu drehen droht, denn der Strom der Menschen, die mit dem Boot über das Mittelmeer setzen, in der Hoffnung, eine bessere Zukunft vorzufinden, reißt nicht ab. Im Gegenteil. Der Vorschlag der EU-Kommision, die ankommenden Flüchtlinge per Quote auf alle 28 Mitgliedsstaaten zu verteilen, hört sich zwar nach einem ersten Lösungsversuch an. Doch stößt er in Ländern wie Großbritannien, Ungarn und Polen auf heftigen Widerstand.
“Um diesen Notstand muss sich die Politik kümmern”, fordert nicht nur Mariu Deriu. Auch Armin Mutschlechner will nicht aufhören, der öffentlichen Hand den Spiegel vorzuhalten: “So wie das offizielle Südtirol agiert, machen wir kein gute Figur vor dem Rest der Welt. Ist aber halb so schlimm, denn Europa rettet lieber Banken und tut sich als Totengräber im Mittelmeer hervor, als sich in Afrika zu engagieren”, prangert er an. Mutschlechner ist sicherlich nicht der einzige, der sich diese Frage stellt. Doch er stellt sie laut: “Ringt sich Brüssel durch, Menschen auf der Flucht die Reise über den Brenner zu erleichtern? Für mich höchste Eisenbahn.”