Wie viele noch?
Wie viele Tote müssen es noch werden, bis endlich etwas dagegen unternommen wird, dass das Mittelmeer zum Massengrab von Flüchtlingen wird? Eine Frage, die in den vergangenen Wochen immer drängender wurde – und nach diesem Wochenende wohl kaum mehr von anderen politischen Agenden verdrängt werden kann. Bis zu 700 Menschen, ein Überlebender berichtet sogar von über 950, sind in der Nacht auf Sonntag mit einem Fischerboot im Kanal vor Sizilien gekentert. Zusammengepfercht auf einem Boot mit einer Länge von gerade einmal 20 bis 30 Metern, das von Lybien aus startete. Männer, Frauen, Kinder, aus verschiedenen Ländern wie Algerien, Ägypten, Somalia, Nigeria, Senegal, Mali, Sambia, Bangladesh oder Ghana. Viele von ihnen sollen von den Schleppern in den Laderaum gezwängt worden sein.
Entsprechend pessimistisch sind die Hoffnungen auf Überlebende. Rund 30 Menschen konnten bis Sonntag Abend lebend aus dem 16 Grad kalten Wasser geborgen werden – neben den ersten 25 Leichen. Da das Meer an der Unglücksstelle sehr tief ist, wird davon ausgegangen, dass die genaue Zahl der Toten nicht einmal festgestellt werden kann. So gut wie sicher ist schon jetzt, dass das Unglück die bislang größte Flüchtlingstragödie im Mittelmeer darstellt. Dabei waren bereits die vergangenen Wochen und Monate eine einzige Tragödie. Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHC schätzt, dass seit Anfang 2015 rund 900 Menschen bei dem Versuch, Europa zu erreichen, im Mittelmeer ertranken. Erst in der vergangenen Woche berichteten Schiffbrüchige von 400 Mitreisenden, die beim Kentern ihres Bootes ertrunken sein sollen. Das sind mehr als zehnmal so viele wie noch im vergleichbaren Zeitraum des vergangenen Jahres – und das, obwohl die Zahl der Reisenden zumindest auf der Hauptroute nach Italien etwa gleich geblieben ist, schrieb Die Zeit erst vergangene Woche. Und hält uns allen den Spiegel vor:
„Was noch beunruhigender ist: Europa wird von dem Sterben an seinen Grenzen nicht mehr aufgeschreckt. Als im Oktober 2013 vor Lampedusa rund 366 Menschen ertranken, sprach der damalige italienische Ministerpräsident Enrico Letta von einem "europäischen Drama" und EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso reiste persönlich an den Unglücksort. Als am vergangenen Sonntag ein Boot mit mehr als 500 Flüchtlingen aus Gambia und anderen Ländern des südlichen Afrikas kenterte und vermutlich 400 Menschen mit in den Tod riss, war das den meisten Nachrichtenseiten nur noch eine Meldung wert. Das Sterben im Mittelmeer wird zum Alltag, so wie einst die Toten nach Anschlägen im Irak oder in Afghanistan. Dabei sterben die Menschen nicht im fernen Orient, sondern direkt vor den Grenzen Europas.“
Nun hat sich die Opferzahl voraussichtlich noch einmal verdoppelt. Ob dies endlich ausrüttelt, muss sich dennoch erst zeigen. Zumindest gab es am Sonntag zahlreiche schockierte Stellungnahmen in ganz Europa. Allen voran in Italien, wo Ministerpräsident Matteo Renzi einen Appell an Brüssel und die internationale Gemeinschaft richtete: „L'Italia chiede di non essere lasciata sola", sagte der Premier und forderte mit Unterstützung von Frankreichs Präsident Francois Hollande noch in dieser Woche einen EU-Sondergipfel. Die Europäische Union müsse endlich ihre Aktion gegen die „Sklavenhändler der Meere“ verstärken; das Thema Migration könne nicht länger als Problem zweiter Klasse behandelt werden.
Papst Franziskus hatte die Opfer der Flüchtlingstragödie am Sonntag Morgen in das Angelus-Gebet eingeschlossen. „Sono uomini e donne come noi. Fratelli nostri che cercano una vita migliore. Affamati, perseguitati, feriti, sfruttati. Vittime di guerre. Cercano una vita migliore. Cercavano la felicità“, wurde der Papst in Medien zitiert.
Für Polemik sorgte dagegen einmal mehr Lega-Chef Matteo Salvini. Er rief zu einer internationalen Schiffsblockade vor Libyen auf, um die Abfahrt der Flüchtlingsboote zu verhindern. Die Toten gingen auf das Konto von Renzi, Alfano und anderer falscher Gutmenschen, erklärte er. Auf dem Gewissen von Brüssel sieht sie dagegen das Stadtoberhaupt von Palermo Leoluca Orlando lasten: „Die EU kann nicht mehr wegschauen", erklärte der Bürgermeister. „Ganze Bevölkerungen" würden sich derzeit in Bewegung setzen. Die Einrichtung humanitärer Korridore sei notwendig, um weitere Flüchtlingsboote zu verhindern.
Schweigeminute auf dem Waltherplatz
Auch in Südtirol wird am Montag wie in vielen italienischen Städten ein Zeichen der Trauer gesetzt. Zwischen 13 und 14 Uhr wurde eine Versammlung auf dem Bozner Waltherplatz einberufen; um 13.30 Uhr soll in einer Schweigeminute der Ertrunkenen im Mittelmeer gedacht werden. Für zumindest vereinzelte Diskussion sorgt die Katastrophe auch in den Sozialen Netzwerken. Der Grüne Abgeordnete Riccardo dello Sbarba erinnert auf Facebook noch einmal daran, wie sehr die Aufgabe der Operation „Mare Nostrum“ zur aktuellen Zuspitzung der Situation beigetragen hat.
„Aver cancellato l'operazione di soccorso "Mare nostrum", per sostituirla con l'operazione di sorveglianza "Triton" è un delitto compiuto a freddo dall'Unione Europea. Le conseguenze erano prevedibili e ora si vedono. «Se questo naufragio fosse confermato per numero di vittime, dall’inizio dell’anno i morti sarebbero già 1.600. L’anno scorso, al 30 aprile, erano 96.“