Suizid im Alter: Wenn's im Alter nicht mehr geht
Elend hat er sich gefühlt. Schwach, müde, antriebslos. Das Alter hat seinen Tribut gezollt, schlafen konnte er auch kaum mehr.
Die Menschheit wird älter, isolierter, doch das war sein Problem nicht. Josef R. lebte ein ruhiges, beschauliches Familienleben. Mit einer fünf Jahre jüngere Frau an seiner Seite. Nach außen hin alles Bestens. 82-Jährig hatte er ein Leben lang seinen Mann gestanden. Gearbeitet, gerackert, die Gesundheit ein selbstverständliches Gut. Vor Krisen ist niemand gefeit.
Krebs? Oder Todesgedanken?
„Da überrascht es Menschen umso mehr“, sagt Primar Roger Pycha, „wenn es plötzlich nicht mehr geht. Meist wird an eine Krankheit gedacht, ein körperliches Leiden. Wie im vorliegenden Fall. Der Herr dachte, er hätte Krebs und ließ sich von seiner Enkeltochter überreden, einen Hausarzt aufzusuchen. Mit einem Psychologen zu sprechen, im ersten Moment ein Ding der Unmöglichkeit.“ Josef R. hat keinen Krebs, Josef R. ist seit drei Monaten suizidal. Der Hausarzt verstand schnell, dass die Seele leidet und damit auch der Körper. „Der Mann aus einem kleinen Ort in der Nähe von Bruneck hat bald zugegeben, dass er nicht mehr gerne lebt und er wurde dann an die psychiatrische Ambulanz überwiesen", erinnert sich Pycha, der am Brunecker Krankenhaus die Psychiatrische Abteilung leitet.
Josef fängt an zu sprechen. Über sich, sein Leben. Es fällt ihm sehr schwer, aber er spricht. Die Tränen kommen. „Die ganze depressive Phase entleert sich, wenn Menschen endlich zu ihrem Leid stehen könne. Josef hat uns nicht nur gesagt, dass er an den Tod denkt, dass er nicht mehr schlafen kann, sondern ja, er hatte bereits einen detaillierten Plan wie sein Tod ausschauen wird.“ Suizid geplant, rechtzeitig kam Hilfe. "Eine psychiatrische Notfallambulanz ist gerade in so einem Fall immens wichtig", sagt Pycha. Die Suizidrate im Alter steigt. Aktuell sind knapp 37 Prozent der Männer und gut 51 Prozent der Frauen, die sich selbst töten, älter als 60 Jahre. Daten aus Deutschland, Tendenz steigend. "Südtiroldaten sind mit denen aus Österreich und Deutschland vergleichbar", weiß Pycha.
"Das sind keine Looser"
Mit Vorurteilen rund ums Thema Suizid aufräumen, möchte Margit Sölva, freie Psychologin. „Es stimmt einfach nicht, dass Menschen sich umbringen wollen. Das sind auch keine Looser. Sie stecken einfach in einer Krise, und sehen keinen anderen Ausweg mehr. Wenn ihnen rechtzeitig eine helfende Hand geboten wird, dann sind sie unheimlich froh und können in kürzester Zeit wieder stabil werden.“ Alle drei Sekunden unternimmt jemand auf der Welt einen Suizidversuch, 50 bis 60 Suizide jährlich gibt es in Südtirol. Auch damit reihen wir uns statistisch in die Suizidrate von Österreich und Deutschland ein, Italien steht weiter hinten. Selbstmord ist immer noch ein vorwiegend männliches Phänomen, drei mal so viel Männer wie Frauen nehmen sich das Leben. Suizidversuche sind dafür unter jungen Mädchen häufiger, Hilfeschreie, die gehört werden sollen. In der Schweiz etwa gehört der Selbstmord zu den häufigsten Todesursachen im Kinder- und Jugendalter.
Es stimmt einfach nicht, dass Menschen sich umbringen wollen. Das sind auch keine Looser. Sie stecken einfach in einer Krise, und sehen keinen anderen Ausweg mehr. Wenn ihnen rechtzeitig eine helfende Hand geboten wird, dann sind sie unheimlich froh und können in kürzester Zeit wieder stabil werden.“
„Gedanken, uns das Leben zu nehmen, hatten wir alle schon“ erklärt Pycha. „Normalerweise vergehen diese Gedanken wieder und wir greifen auf andere Mittel zurück. Besonders suizidgefährdet sind Menschen, die an Depression leiden, Suchtkranke und alte Mensche. Politische und wirtschaftliche Krisen verstärken Selbstmorde, chronisch Kranke und Arme gehören auch zu den Risikogruppen.“ Armut und Gesundheit – zwei, die sich gerne die Hand reichen. Und, sagt Pycha: "Die wirtschaftliche Krise, in der wir uns gerade befinden, die bemerken wir natürlich schon bei der Suizidrate."
Selbstmord war im Dritten Reich etwa oft der letzte Ausweg. Den ganzen Beitrag lesen Sie in "Die Welt"
Aufpassen auf sich und den anderen
Josef R. war schwer depressiv. Nachdem er dem diensthabenden Psychiater von seinem Plan erzählt hatte, war seine Enkeltochter zutiefst getroffen und schockiert. Damit hatte in der Familie niemand gerechnet. „Du musst im Krankenhaus bleiben“, sagte sie „du bist zu gefährlich für dich selbst.“ Ihr Großvater sah das ein, und ließ sich helfen. Die Medikamente, die ihm angeboten wurden, wollte er anfangs nicht nehmen. „Wir haben ihm ein leichtes Schlafmittel gegeben, damit er endlich zur Ruhe kommt. Das hat ihm schon sehr geholfen, und ich hab ihm dann gesagt: 'Wenn Sie eh sterben wollen, dann können Sie auch die Tabletten nehmen", berichtet Pycha. „Ab dem 70. Lebensjahr schießt die Suizidrate extrem nach oben“, sagt Sölva. Männer sind auch in dieser Alterskategorie häufiger davon betroffen als Frauen. Nach dem 80. Lebensjahr aber kehrt sich die Geschlechterhäufigkeit beim Suizid um. „Dann sind es mehr Frauen als Männer, die sich das Leben nehmen“, so Pycha.
Laut des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) hat jeder vierte alte Mensch nur noch einmal im Monat Besuch von Freunden und Bekannten. Dazu kommt eine nicht zu unterschätzende Dunkelziffer von Senioren, die gar keinen Kontakt mehr zur Umwelt haben. Den ganzen Beitrag des NDR mit einem Filmbeitrag sehen und lesen Sie hier.
Essensverweigerung, sich Zurück ziehen, Isolation. Sinnfrage. Eine ganze Generation, ist müde vom Altern. „Vor allem in Altersheimen spielt das Thema Depression eine sehr große Rolle“, erklärt Sölva. „Da ist Südtirol dabei stärker aktiv zu werden, aber es ist ein schwieriges Feld.“ Alte Menschen brauchen Perspektiven, Aufgaben, Verantwortung.
"Niemand bringt sich schnell mal um - das ist ein Prozess"
Dreiundzwanzig Tage bleibt der depressive Mann mit Suizidgedanken im Krankenhaus, dann kann er wieder entlassen werden. „Er war so froh, dass er endlich wieder schlafen konnte. Die Medikamente nimmt er bis heute", berichtet Pycha, der Josef R. betreute. Margit Sölva weiß: Es braucht noch viel Aufklärung in diesem Bereich. "Suizidalität ist ein Prozess. Nur weil ich grad in einer Krise bin, bring ich mich deshalb noch lange nicht gleich um."
Sölva und Pycha möchte eines unterstreichen: Menschen, die Hilfe brauchen, können sich rund um die Uhr an die Erste Hilfe wenden. „Die Erste Hilfe ist nicht nur da, wenn sich jemand das Bein bricht, oder er plötzliche Magenschmerzen hat. Auch bei psychischen Krisen gibt es diensthabende Psychologen oder Psychiater, die da sind.“ Wenn Menschen sich in ihrer Verzweiflung einem Nahestehenden anvertrauen, dann zuhören, nicht herabtun, nicht klein machen, so Sölvas Appell. „Und wenn es Ihnen als Partner, Freundin oder Elternteil zu viel wird, dann einfach die Erste Hilfe anrufen.“
Hilfe annehmen, und reden, über die Verzweiflung, die Einsamkeit, über Schlaflosigkeit und auch über Todesgedanken.
„Josefs Enkeltochter war wirklich sehr engagiert und weise“, sagt Pycha „Das war ein absolutes Happy End.“ Hinschauen kann helfen, hinschauen kann Leben retten.