Gesellschaft | Reportage

Karibu sana in Tanzania

Drei Wochen Tansania, drei Wochen fremd und doch angekommen. Als kleine Reisegruppe des Maria Hueber Gymnasiums machen wir uns mit riesigen Rucksäcke auf ins Unbekannte.
werkstatt_salto.jpg
Foto: Heike Walden
„How are you? How are you?” Kinder jeden Alters stürmen auf dich zu, berühren dich, lächeln dich an. Auf die Antwort: „Fine and you?“ folgt allerdings kein Gespräch. Die Schule besuchen und Englisch lernen, das können nämlich nur die wenigsten. Bildung hat, besonders in tansanischen Dörfern, keinen hohen Stellenwert. Die Gebühren, Materialien und Uniformen sind teuer, weshalb sich viele von der Schule fernhalten. Die ehemalige deutsche und später britische Kolonie exportiert zwar neben Sisal und Kaffee heute hauptsächlich Gold, die Menschen spüren aber selbst nichts von diesem Reichtum. Neben Armut gibt es auch andere Gründe fürs Fernbleiben von der Schule. Wichtiger als Bildung gelten hier Arbeit und das Gründen einer Familie. Damit beginnt der Teufelskreis: Buben müssen sich einen Job suchen, bei der Feldarbeit oder im Handel. Für Mädchen sind die Perspektiven noch trostloser: mit zwölf verheiratet werden, mit dreizehn schwanger sein.
 
Nach einer siebenstündigen Fahrt von Dar es Salaam weg mit einem Wahnsinns-Tempo über holprige Straßen erreichen wir das Bergdorf Kinole, das sich in der Nähe der Stadt Morogoro im Landesinneren von Tansania befindet. Uns gegenüber sitzt eine Gruppe von Mädchen, keine älter als zwanzig. Das Schweigen wird von einer 18-Jährigen gebrochen. Sie erzählt uns ihre Geschichte: bereits zweifache Mutter, das erste Kind gerade mal mit dreizehn. Ihr Ehemann 40 Jahre alt. Ihre Eltern fanden keinen Ausweg aus der Misere, sie waren nicht mehr in der Lage alle sieben Kinder zu ernähren. Die scheinbar einzige Lösung hieß Verheiratung der ältesten Tochter. Die Mädchen wissen nicht, worauf sie sich einlassen und dass die Ehe sie in eine Situation katapultiert, aus der Entkommen so gut wie unmöglich scheint. Dieses Schicksal ist in afrikanischen Dörfern kein Einzelfall. Laut einer tansanischen Studie, die 2017 durchgeführt wurde, sind 37% der heutigen 20 bis 25-jährigen Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet worden (Girlsnotbrides.org/tansania). Girls not brides ist ein weltweiter Zusammenschluss von mehr als 100 Organisationen aus mehr als 95 Ländern. Gemeinsam versuchen sie Kinderheirat zu stoppen und Mädchen eine selbstbestimmte Zukunft zu ermöglichen.  
Eine Dame mittleren Alters hält ihre Hand hoch. Auch sie möchte uns ihre Geschichte erzählen: „Mein Mann arbeitet nicht. Ich habe sechs Kinder, und ich weiß nicht, wie ich die ganze Familie durchbringen soll. Jeden Tag stehe ich stundenlang vor meinem Haus und verkaufe Mandazi, ein typisches Gebäck der Gegend. Danach kümmere ich mich um die Kinder und den Haushalt. Mein Mann hilft mir nicht.“ Die Frau wechselt in eine bequemere Sitzposition und blickt in die Runde, um unsere Reaktionen einzufangen. Bevor wir überhaupt antworten können, erzählen schon die nächsten Frauen von ähnlichen Problemen: Oftmals wird das Zuhause mit weiteren Ehefrauen des Mannes geteilt, denn Polygamie ist in vielen Teilen Afrikas verbreitet. So auch in Tansania. Für die Großfamilie sorgen aber nur die wenigsten Männer. Ist ja schließlich Frauensache. Nicht nur die Erziehung, sondern auch die Erhaltung der Familie gehört zu den Zuständigkeiten von Frauen.
Ein Drittel aller Tansanier*innen leben unter der Armutsgrenze, sie haben keine Möglichkeit zu notwendigen Lebensmitteln zu kommen.
Am Abend sitzen wir als Reisegruppe um einen runden Tisch und starten unsere Fragerunde. Das machen wir Schülerinnen auf unserer dreiwöchigen Projektreise immer so. Die junge Rehema, die uns die Erfahrungen mit den Mädchen und Frauen im Bergdorf Kinole erst ermöglicht hat, versucht uns beim Verarbeiten des Gehörten zu helfen. Sie ist Akademikerin und wechselt problemlos zwischen Swahili und Englisch. Wir kommen auch auf das Thema Genitalverstümmelung zu sprechen - die teilweise oder vollständige Entfernung von Klitoris und inneren Schamlippen. Warum wird den jungen Frauen die Beschneidung angetan? Die Gründe sind immer dieselben: Mädchen sollen „rein“ sein, ihre Lust soll kontrolliert werden. Eine unbeschnittene junge Frau gilt als nicht vermittelbar. Die meisten Beschneidungen, besonders im Ländlichen, finden allerdings ohne jegliche medizinische Betreuung statt. Die „Beschneiderinnen“, benutzen Rasierklingen, Messer oder Scheren. Von Sterilität und Betäubung keine Spur. Das nötige Wissen über die Folgen dieses Eingriffs fehlt. Kein Wunder, dass viele Mädchen diesen Prozess nicht überleben. Während die Beschneidung in Tansania nur in den nördlich gelegenen Dörfern üblich ist, wird sie in zahlreichen anderen Ländern Subsahara-Afrikas häufiger praktiziert. 
 
Weit verbreiteter ist die Problematik der Geburtenkontrolle: „Ich beendete nur wenige Tage vor eurem Eintreffen in Tansania meine Beziehung“, beichtet selbst Rehema. „Er wollte einfach nicht einsehen, warum ich auf Kondome beim Sex bestand. Obwohl er auch keine Kinder will. Hätte ich mich dann allein um unser Kind kümmern sollen?“ Die Männer bevorzugen ungeschützten Sex, und da die Frauen die Folgen nicht abschätzen können, kommt es vielfach zu ungewollten Schwangerschaften. Erst recht, weil Verhütung, Sex und Menstruation von der tansanischen Gesellschaft tabuisiert werden. Unser Schock über das Gehörte sitzt tief.
 
Zurück in der 6-Millionen-Großstadt Dar es Salaam bei unseren Gastfamilien bemerken wir Sophia vor dem Haus. „Mambo. Poa. Mzima. Mzima. Karibu. Asante sana”. Swahili-Begrüßungen können endlos sein. Sophia sitzt am Boden, vor ihr die heiße, auf Kohle gelegte Kochplatte. „Heute gibt`s Reis mit Bohnen“, verkündet uns die 21-Jährige in gebrochenem Englisch. Bohnen, sie beinhalten wichtige und zahlreiche Proteine. Nur gibt es sie täglich neben Reis, Kochbananen und dem Maisbrei Ugali. Verwöhnt von unserer abwechslungsreichen Kost träumen wir zunehmend von Pizza, Pasta oder einem Sommersalat.
 
Tansania ist immer noch eines der ärmsten Länder der Welt und ist auch dementsprechend nicht mit unseren europäischen Standards vergleichbar. Ein Drittel aller Tansanier*innen leben unter der Armutsgrenze, sie haben keine Möglichkeit zu notwendigen Lebensmitteln zu kommen. Die Arbeitslosigkeitsrate ist hoch. Bereits Kinder sind auf der Suche nach Arbeit. Viele wursteln sich in den Städten auf Fischmärkten, als Straßenverkäufer oder Schuhputzer durch. Wer keine Arbeit findet, landet auf der Straße.   
 
Mittlerweile ist eine gute Stunde vergangen. Wir setzen uns in den Innenhof neben die kochenden Frauen und beobachten, wie sie auf dem Erdboden zwischen Hühnern und herumrennenden Kindern, Gemüse für den Eintopf schnippeln. Wir bieten unsere Hilfe an. Gemeinsam schälen wir Tomaten und Zwiebeln, sortieren den Reis von ungenießbaren Körnern und waschen die Teller in der Schüssel mit kaltem Wasser für das gemeinsame Essen ab. Fremde Gerüche steigen vom brodelnden Etwas auf. „It smells very well“ versuchen wir eine Konversation in Gang zu bringen, obwohl wir uns ein innerliches Naserümpfen nicht verkneifen können. Nachdem wir mit bloßen Händen essen, bringt Sophia eine große Wasserschüssel und einen kleineren Kübel zum Darübergießen. Mehr braucht es für das Waschritual vor dem Essen nicht. Verwendet wird trotzdem nur die rechte Hand, die sogenannte „reine“. Die Linke ist die Hand für die Körperreinigung. 

Inzwischen ist es dunkel. Die Sonne in Äquatornähe geht bereits um 19 Uhr unter, danach ist es stockfinster. Bei Einbruch der Dunkelheit sollten wir Mädchen nicht mehr allein unterwegs sein. Selbst für Einheimische wird der nächtliche Aufenthalt auf Straßen oder in Gassen gefährlich. Dennoch ist Tansania eines der friedlichsten Länder Afrikas. Christen und Muslime leben konfliktlos zusammen, wie wahrscheinlich kaum woanders auf der Welt. 

Zwei Tage nachdem wir wieder in Südtirol sind, heiraten unsere Gasteltern. Sie ist Deutsche und Christin, er Muslime, wie seine tansanischen Verwandten. Keine strenggläubigen. „Der unterschiedliche Glauben stellt für uns kein Problem dar, es gibt nämlich drei verschiedene Zeremonien. Der erste Teil der Feierlichkeiten ist die „kitchen party“, bei der alle weiblichen Nachbarn und Verwandten zu mir nach Hause kommen und mir Küchenutensilien schenken. Am zweiten Tag findet eine klassische standesamtliche Hochzeit am Strand statt, und am nächsten Tag folgt dann die traditionelle Zeremonie, in Tanga, dem Geburtsdorf meines Mannes.“, erzählt Ina.  Auf unsere Frage, ob Religion jemals ein Streitthema zwischen den beiden war, schüttelt sie den Kopf. „Nein, da gibt es Wichtigeres, um das wir uns kümmern müssen.“ Dann fängt sie an, das Essen für ihren Sohn vorzubereiten.

‚Europäer haben die Uhr, wir haben die Zeit‘
Altes afrikanisches Sprichwort

Uns Mädchen erscheint nicht nur der Kochprozess endlos, auch das Warten, Waschen und Putzen ziehen sich in die Länge. Unsere tansanischen Bekannten haben ein anderes Zeitverständnis. Pünktlichkeit ist ihnen nicht wichtig. Alles scheint „pole-pole“ zu geschehen, so der Swahili-Begriff für ‚langsam‘. Als wir uns bei unserer Reisebegleiterin Rehema über die Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit (im Vergleich zur europäischen Genauigkeit) der Tansanier*innen beschweren, antwortet sie mit einem herzlichen Lachen. „Wisst ihr, ein altes afrikanisches Sprichwort besagt: ‚Europäer haben die Uhr, wir haben die Zeit‘.“ Wir stimmen in das Gelächter ein, doch macht uns der Spruch auch nachdenklich. Es existiert also so etwas wie ein anderes, uns fremdes, Zeitverständnis. Tatsächlich sucht man Stress und Leistungsdruck im Alltag hier vergeblich. Unsere Schulprojekt-Reise ist neben dem Kulturaustausch eine wohltuende Pause, Gelegenheit, eine Spur zurückzuschalten.

 

Fotos: Karoline Firmian und Heike Walden