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Ist diese Welt noch zu retten, Herr Ottacher?

Am 1. Jänner traten die Nachhaltigen Entwicklungsziele in Kraft. In Paris wurde ein neuer Weltklimavertrag vereinbart. Zugleich fliehen immer mehr Menschen nach Europa.

Fast zwei Jahrzehnte lang hat Friedbert Ottacher Projekte in Pakistan, Palästina, Albanien, Äthiopien, Südsudan, Simbabwe und Mosambik begleitet. Heute lehrt er an der Technischen Universität Wien und arbeitet als Berater, Trainer und Autor zur Entwicklungszusammenarbeit. Er ist überzeugt, dass sich die Lebensumstände der Mehrheit der Weltbevölkerung in den nächsten Jahren verbessern werden.

Die 169 Nachhaltigen Entwicklungsziele sind seit 1. Jänner dieses Jahres in Kraft. Sie sind 17 Themenbereichen zugeordnet und zielen unter anderem auf eine Beendigung der Armut auf der Welt bis 2030 ab. Wie soll das gehen?
Friedbert Ottacher: Es braucht eine große gemeinsame Anstrengung aller Länder, um den globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Migration, menschenwürdige Beschäftigung und Sicherheit zu begegnen. Das Ziel, die absolute Armut weltweit auszurotten, ist zweifelsohne ambitioniert, aber nicht unrealistisch. Die Prognosen für viele Entwicklungsländer sind positiv, einige gescheiterte und fragile Staaten – aus denen auch die meisten Flüchtlinge kommen – werden aber deutlich mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung als jetzt erhalten müssen.

Die Millenniumsziele, die für den Zeitraum 2000 bis 2015 galten, sind nur ansatzweise erreicht worden. Warum sollen die Folgeziele jetzt richten, was bisher nicht zu richten war?
Aufgrund der dynamischen Wirtschaftsentwicklung in China, Indien und anderen Schwellenländern wurden vier der acht Ziele global erreicht. Wenn man aber auf Afrika südlich der Sahara blickt, sieht man, dass dort keines der acht Ziele erfüllt wurde. Dennoch gab es große Fortschritte: Heute gehen weltweit vier von fünf Kindern in die Volksschule – 1990 war es nur eines von zwei. Die Kinder- und Müttersterblichkeit wurde halbiert – das sind große Erfolge – auch wenn das Ziel eine Verringerung um zwei Drittel war.

Welche Ziele sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten?
Die Ziele sind nicht priorisiert, das heißt, sie sind alle gleich wichtig. Für mich stehen dennoch die Ziele zur Bekämpfung des Hungers und der Armut im Zentrum. Ein Ziel mit besonderer Relevanz für uns Europäer*innen ist Ziel 12: „Verantwortliche Konsummuster“. Hier sind wir aufgerufen, unsere Konsumgewohnheiten und unser Mobilitätsverhalten zu verändern.

Die Nachhaltigen Entwicklungsziele - Sustainable Development Goals.

Das ist das Neue an den Zielen: Auch der Globale Norden wird in die Verantwortung genommen. Was können wir mit unserem täglichen Verhalten tatsächlich beeinflussen?
Wir sind aufgefordert, unsere Konsum- und Produktionsmuster zu verändern. So sollen bei uns weniger Nahrungsmittel weggeworfen werden und die Herstellung von Produkten dank technischer Innovationen umweltfreundlicher erfolgen. Den größten Hebel haben wir zweifelsfrei in unserer Rolle als Konsument*innen in der Hand: Unsere Kaufentscheidungen beeinflussen, was zu welchen Bedingungen produziert wird.

Warum sehen das viele Menschen nicht ein? Welche Maßnahmen braucht es dafür?
Die Leute, die bewusst leben und Fairtrade-Produkte kaufen, sind immer eine Minderheit. Die Masse erreicht man nur über soziale und finanzielle Anreizsysteme. Diese Veränderung muss dabei aufgrund der technischen Innovation – Stichwort erneuerbare Energie und Digitalisierung - nicht mit Einschränkungen und dem Verlust an Lebensqualität einhergehen.

Die nachhaltigen Entwicklungsziele sollen einen positiven globalen Wandel auslösen. Ist das mehr Wunschdenken als realisierbare Wirklichkeit?
Kritiker*innen sehen in den Nachhaltigen Entwicklungszielen eine unerfüllbare Wunschliste. Aber 15 Jahre sind eine lange Zeit – und da sie für alle Länder und Gebietskörperschaften gelten, ist davon auszugehen, dass sie langsam aber stetig präsenter und in die Realpolitik einfließen werden.

Was hat es mit dem Zusatz „nachhaltig“ auf sich? Zeitgeist oder bedeutend?
In meinen Augen ist es eher eine Rückbesinnung. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wurde ja in den 80er-Jahren durch die Umweltbewegung modern. Da die Ökologie in drei von 17 Themenbereichen verankert ist, wollte man auch im Titel „Nachhaltigkeit“ prominent anführen.

Aber die Ausbeutung von Ressourcen geht weiter. In vielen Ländern der Welt ist von einer nachhaltigen Bewirtschaftung und einem verantwortungsvollen Umgang mit Land und Boden nichts zu spüren. Der Konsumwille bei der Bevölkerung im globalen Norden ist nach wie vor groß. Wer muss wo beginnen?
Beginnen müssen wir bei uns. Im Zuge der Klimadebatte haben Schwellenländer wie Indien, China und Brasilien immer auf ihr „Recht auf Entwicklung“ gepocht. Nach dem Motto: Der Westen konnte jahrzehntelang die Umwelt ausbeuten und seinen Reichtum darauf aufbauen, aber jetzt sind wir am Zug. Angesichts des fortschreitenden Klimawandels muss es einen Kompromiss geben. Und der kann nur glaubwürdig sein, wenn die Industrieländer mit gutem Beispiel vorangehen und eine Energiewende vollziehen.

Friedbert Ottacher: Es wird besser. Foto: Privat

Kriege sind unter anderem Folge von Ungleichheit und Not. Die Flüchtlinge, die derzeit nach Europa drängen, zeigen deutlich, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Wie kommt die Welt zur Ruhe?
Ja, aus unserer Perspektive scheint die Welt aus den Fugen geraten: Wer hätte vor wenigen Monaten mit solchen Flüchtlingsströmen gerechnet? Aus der Perspektive eines Peruaners, einer Kenianerin oder eines Laoten sieht es anders aus: Dort entsteht eine neue Mittelschicht, die Wirtschaft wächst und die heutigen Generationen leben deutlich besser als ihre Eltern. Das Problem liegt in Kriegsgebieten und fragilen Staaten. Hier müssen sich die internationale Politik und die Entwicklungszusammenarbeit viel stärker engagieren.

Was muss der italienische Staat in Zusammenhang mit den neuen Entwicklungszielen tun, was das Land Südtirol, was jede Gemeinde?
Alle Gebietskörperschaften müssen sich überlegen, wie sie die Ziele in ihrem Einflussbereich umsetzen. Nehmen wir Ziel 1 „Beseitigung der Armut“: Hier muss sich jedes Land – in unserem Fall Italien – überlegen, wie es die Bürger*innen, die unter der hiesigen Armutsgrenze leben, aus der Armutsfalle bekommt. Dazu braucht es einen Aktionsplan, Geld und konkrete Maßnahmen. Das gleiche gilt für alle anderen Ziele.

Wie können die Ziele finanziert werden? Wo muss Umverteilung stattfinden?
Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass die Umsetzung der Ziele rund 4 Prozent des jährlichen globalen Bruttoinlandsproduktes benötigt. Die Entwicklungszusammenarbeit wird nur einen kleinen Teil finanzieren können, den Löwenanteil sollen die Entwicklungsländer durch bessere Steuerpolitik selbst aufbringen. Auch in die Beteiligung der Wirtschaft wird große Hoffnung gesetzt. Leider ist es nicht gelungen, eine internationale Behörde einzusetzen, die die Steuerflucht von Konzernen, die in Entwicklungsländern billig produzieren lassen, aber kaum Steuern abführen, verhindern soll. Diese Forderung der Entwicklungsländer wurde von den Industrieländern abgeschmettert. Ich bin aber überzeugt, dass sie früher oder später umgesetzt wird.

Gar manche Menschen sprechen vom bevorstehenden Dritten Weltkrieg. Haben Sie Hoffnung?
Wenn man in der Entwicklungszusammenarbeit tätig ist, sollte man optimistisch bleiben. Ich betreue seit 15 Jahren Projekte in afrikanischen Ländern und beobachte die stetigen Veränderungen und Verbesserungen im Leben vieler Menschen. Global gesehen wird es in den nächsten Jahrzehnten für die Mehrheit der Weltbevölkerung besser werden.

Was bedeutet das? Wie sieht die Welt 2030 aus?
Meine Vision ist, dass die Welt zusammenwächst und nicht – wie es jetzt zumindest aus europäischer Perspektive scheint – wieder auseinanderdriftet. Die Stoßrichtung der Nachhaltigen Entwicklungsziele ist richtig:  Es gibt globale Herausforderungen, die wir nur gemeinsam stemmen können – als Partner*innen auf Augenhöhe.


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Dieses Interview stammt aus der Ausgabe 01/2016 der Straßenzeitung zebra.