Wirtschaft | Interview

„Die Aufbauzeit ist vorbei“

Landesrätin Maria Hochgruber Kuenzer sieht die Würfel für die Seilbahnverbindung von Kastelruth auf die Seiser Alm noch nicht gefallen. Denn sie nimmt ein Umdenken wahr.
Maria Hochgruber Kuenzer
Foto: LPA/Tiberio Sorvillo

Nach einer jahrelangen Flut an Rekursen hat das oberste Verwaltungsgericht in Rom, der Staatsrat, endgültig grünes Licht für eine Seilbahnverbindung von Kastelruth auf die Seiser Alm gegeben. Noch heuer soll mit der Renovierung des alten Liftes vom Kastelruther Dorfrand nach Marinzen begonnen werden. Der Zweiersessellift soll einer 10er-Kabinenbahn weichen, von der aus es künftig weiter auf den Puflatsch auf der Seiser Alm gehen soll. So die Pläne der Marinzen GmbH, hinter der Tourismus- und Wirtschaftstreibende aus Kastelruth und Gröden stehen. Dass nach dem Urteil des Staatsrates das – in der Gemeinde selbst umstrittene – Projekt einer Bahn auf den Puflatsch tatsächlich realisiert wird, davon geht Maria Hochgruber Kuenzer dennoch nicht aus: In der finalen politischen Bewertung werde das Einzelinteresse dem Gemeinwohl nicht standhalten, sagt die Landesrätin für Raumordnung und Landschaftsschutz. Und sie hält es für an der Zeit, die bisherige Praxis beim Bau und Betrieb von Aufstiegsanlagen zu überdenken.

salto.bz: Frau Hochgruber Kuenzer, 2019 sagten Sie von sich, im Falle der Seilbahnverbindung von Marinzen auf den Puflatsch eine „überzeugte Nein-Sagerin“ zu sein. Sind Sie das noch oder haben Sie sich umstimmen lassen?

Maria Hochgruber Kuenzer: Wer auf der Seiser Alm war und dort ein bisschen gewandert ist, sieht keine Notwendigkeit für eine neue Verbindung bis zum Puflatsch. Es gibt bereits die Bahn von Seis auf den Compatsch – wer von dort weiter auf den Puflatsch will, kann nach einem kurzen Fußweg eine weitere Kabinenbahn nehmen. Neue Verbindungen sind nicht notwendig. Dazu stehe ich nach wie vor.

Den Staatsrat hingegen haben die Argumente der Marinzen GmbH bzw. deren Rechtsanwalts durchaus überzeugt. 2020 hat die Landesregierung die Machbarkeitsstudie zu Marinzen–Puflatsch genehmigt. Dagegen hat die Seis-Seiser Alm Bahn AG, die die Bahn in Seis betreibt, Rekurs eingelegt – und vom Verwaltungsgericht Bozen recht bekommen. Gegen das Urteil hat die Marinzen GmbH Einspruch beim Staatsrat eingelegt. Und der römische Richterrat hat diesen nun angenommen. Wie haben Sie das Urteil aufgenommen? 

Wir haben in der Landesregierung bereits zwei Mal über die Machbarkeitsstudie dieses Projektes beraten und dann auch entschieden. In meiner Rolle habe ich sie abgelehnt. Mein subjektiver Standpunkt, unabhängig von diesem Urteil, ist: In Südtirol haben wir eine Autonomie und Autonomie heißt Eigenständigkeit genauso wie Verantwortung. Diese Verantwortung haben wir auch der Natur gegenüber – das gilt für beide Seiten, für Umweltverbände und für Unternehmen, die etwas realisieren wollen. Mittlerweile ist in mir stark die Überzeugung gewachsen, dass wir diese Eigenverantwortung im Falle der Natur nicht so recht wahrnehmen. Bei Entscheidungen der Landesregierung oder Projekte, die gegen bestimmte Richtungen gehen, wird immer wieder versucht, an Gerichte heranzutreten, um zu fragen, wer Recht oder nicht Recht hat. Damit dienen wir der Natur aber weniger. Denn das, was wir unter Recht oder nicht Recht haben verstehen, gibt es, so glaube ich, im Falle der Natur nicht.

Es ist Aufgabe der Politik, über gesetzliche Bestimmungen und Maßnahmen zu definieren, ob Einzelinteressen dem Gemeinwohl standhalten können

Sie haben es angesprochen: Nach einem zweifachen Nein 2016 und 2018 hat sich die Landesregierung 2019 und – nach einem gerichtlichen Rückschlag – 2020 wiederholt mit dem Projekt Marinzen–Puflatsch befasst – und zugestimmt. Alleine Sie haben beides Mal dagegen gestimmt. 2020 hat Ihr Kollege, Mobilitätslandesrat Daniel Alfreider, den entsprechenden Beschluss in die Landesregierung gebracht – und damit in Ihren Zuständigkeitsbereich eingegriffen. Wie geht man mit einer solchen Aktion und dem Kollegen um?

Der Kollege Alfreider ist für die Mobilität zuständig und da das Projekt auch die Mobilität betrifft, ist es seinem Kompetenzbereich nicht ganz fremd. Ich weiß nicht, ob er den Beschluss nochmals als Mobilitätslandesrat vorlegen wird. Mit der Zeit, in den Monaten und Jahren, die das Projekt jetzt schon kursiert, hat sich die Gesinnung, aber auch das Für und Wider stark verändert. Man denkt heute einfach anders. Die Aufbauzeit ist vorbei.

 

Marinzenlift
Marinzenlift:  "Ein Umdenken erfordert dann natürlich auch, Projekte wie die Bahn von Marinzen auf den Puflatsch neu zu bewerten."

 

Hat dieser von Ihnen wahrgenommene Sinneswandel auch damit zu tun, dass bei privaten Infrastrukturprojekten, die durch Steuergelder mitfinanziert werden – Beispiel Tierser Seilbahn oder Lift zur Langkofelscharte – lauter und breiter Protest vorgetragen wird – von Umweltverbänden, Naturschutzorganisationen, der Zivilgesellschaft – als früher?

Ich glaube, es ist eher ein Zeichen der Zeit, eine Tendenz, die es weltweit und eben auch in Südtirol gibt. Ein Klimaplan oder der Versuch, effektiv Ressourcen einzusparen waren vor fünf Jahren eigentlich nicht so Thema. Das sind alles Beiträge, die die Landesregierung vorangetrieben hat – ohne Druck von irgendjemanden. Südtirol geht den Weg des Umdenkens mit. Ein Umdenken erfordert dann natürlich auch, Projekte wie die Bahn von Marinzen auf den Puflatsch neu zu bewerten. Und ich glaube, dass sie dieser Bewertung nicht standhalten werden.

Ich gehe davon aus, dass die Diskussion in der Landesregierung unter dem Licht von heute und ernsthaft geführt wird

Die Landesregierung ist sich längst nicht immer einig, wohin der Weg gehen soll, etwa beim Lift vom Sellapass auf die Langkofelscharte. Der Betreiber will die Anlage renovieren und die Förderleistung auf rund 3.000 Personen täglich erhöhen. Der italienische Alpenverein CAI ist gegen den Ausbau der Kapazitäten und verlangt, die Bahn abzutragen. Für Landesrat Alfreider kommt ein Abbau nicht in Frage. Wenige Tage später meint Landeshauptmann Arno Kompatscher, es sei sehr wohl angebracht, darüber nachzudenken, „ob es diese Bahn überhaupt noch braucht“. Wie stehen Sie dazu?

Nichts mehr aufzubauen ist eine Entscheidung, die die Zeit trifft. Abzutragen, so wie es bei der Anlage auf die Langkofelscharte im Raum steht, wäre eine radikale Wende. Tatsache ist, dass die Verfügbarkeit von Raum im Bereich der Bergstation begrenzt ist. Es ist zu wenig Platz für so viele Menschen. Für mich zeigt die Debatte eine grundsätzliche gesellschaftliche Veränderung auf: Im Laufe der Zeit ist die Akzeptanz dafür verloren gegangen, dass wir – aufgrund des physischen Alters und Zustandes – nicht vom Baby bis zum älteren Menschen überall hinkommen. Früher hat man das als gegeben genommen, heute versucht man, auch durch Aufstiegsanlagen, allen den Zugang zu ermöglichen.

Als Sie Anfang Juli Bilanz über Ihre vergangenen fünf Jahre in der Landesregierung gezogen haben, haben Sie die betont, dass es notwendig sei, Einzelinteressen in den Bereichen Raumordnung und Landschaftspflege zu reduzieren. Lässt sich die Politik zu sehr von wirtschaftlichen Interessen Privater leiten? Oder wie ist Ihre Aussage zu verstehen?

Auf der einen Seite ist es legitim, wenn jemand ein Einzelinteresse vertritt und etwas verwirklichen möchte. Auf der anderen Seite gibt es die politischen Vertreter, die das Gemeinwohl überprüfen müssen. Die Raumordnung ist ein sichtbares Beispiel dafür. Und ich staune schon, wenn jetzt gesagt wird, dass wegen des neuen Raumordnungsgesetzes weniger gebaut wird. Da bekomme ich den Eindruck, jemand hat etwas nicht verstanden: Es ist Aufgabe der Politik, über gesetzliche Bestimmungen und Maßnahmen zu definieren, ob Einzelinteressen dem Gemeinwohl standhalten können. Dazu kommen bei der Bewertung von Einzelinteressen neue Überlegungen, wie die, wie viele Ressourcen verbraucht werden, wenn zum Beispiel die Zweckbestimmung geändert wird – was also die Folgen dieser Maßnahme sind.

Wir nehmen die Eigenverantwortung im Falle der Natur nicht so recht wahr

Die Landesregierung begründet im Beschluss von 2020 ihr Ja zu Marinzen–Puflatsch auch mit „Vorteilen von öffentlichem Interesse“, die die Bahn bringe – konkret „die Verringerung des Verkehrs auf der Achse Kastelruth-Seis und die touristische Entwicklung der Gemeinde Kastelruth“. Jetzt ist Kastelruth die Gemeinde mit der absolut höchsten Anzahl an Gästebetten (2022: 9.572) und Nächtigungen (2022: 1,63 Millionen) in Südtirol. Wohin soll sich so eine Gemeinde noch entwickeln?

Soweit ich weiß, bezieht sich diese Aussage auf das Bestreben der Marinzen GmbH, dass der Gast in Kastelruth im Grunde kein Auto mehr braucht, um auf die Seiser Alm zu gelangen, weil er mit der Bahn fährt. Sonst fährt er eben drei Kilometer weiter nach Seis zum Parkplatz und dann hinauf … Aber so habe ich die Zielrichtung zumindest erklärt bekommen – dass es mit der Seilbahn weniger Verkehr gibt.

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Tierser Seilbahn: "Was durchaus zum Nachdenken anregt, sind tatsächlich die Kosten für einheimische Familien bei der Nutzung von privat geführten Aufstiegsanlagen, die aber beim Bau mit öffentlichem Geld unterstützt worden sind."

 

In den Landesämtern werden die positiven Aspekte der Bahnverbindung kritisch gesehen: Es gibt ein negatives Gutachten des Umweltbeirates und teilweise negative Gutachten der Abteilungen Wirtschaft und Mobilität sowie des Amtes für Seilbahnen. Ihre Kollegen in der Landesregierung haben diese Einschätzungen praktisch vom Tisch gewischt.

Die Gutachten der Ämter sind natürlich richtungsweisend. Und man muss wirklich sehr gut überlegen, wenn Ämter Argumente aufzählen, warum sich ein Vorhaben nicht positiv auswirkt oder was ein Eingriff bedeutet. Zugleich muss ich dezidiert sagen: Die Landesregierung muss die Bewertung der Ämter auch noch einmal bewerten. Es ist einfach, wenn ich allesamt positive Gutachten vorliegen habe und als Landesregierung dann nur mehr absegne. Insofern ist es schon immer eine Herausforderung, die fachlichen mit den strategischen Bewertungen abzuwägen, die eine Politik vielleicht mehr im Vordergrund sieht.

Neue Verbindungen auf die Seiser Alm sind nicht notwendig – dazu stehe ich nach wie vor

So oft die Umflaufbahn von Seis auf die Seiser Alm immer wieder als Vorzeigebeispiel für eine gelungene Verkehrsberuhigung in einem Schutzgebiet genannt wird – so kritisch kann hinterfragt werden, wer davon auch wirtschaftlich profitiert: Das Land sperrt die Zufahrtsstraße zur Alm, finanziert den Bau der Alternative Bahn mit – und überlässt die Führung einer privaten Aktiengesellschaft, die die Preise frei gestalten kann. Ähnliches passiert mit der Straße auf den Nigerpass und der Tierser Seilbahn. Würden Sie es als sinnvoll erachten, wenn strategische Aufstiegsanlagen künftig nicht nur vom Land mitfinanziert, sondern auch betrieben bzw. in das Verkehrsverbundsystem integriert und mit den Abonnements des öffentlichen Personennahverkehrs nutzbar würden?

Vorausgeschickt: Es gibt einige positive Beispiele, allen voran die Rittner Seilbahn, die sehr, sehr gut genutzt werden und mit dem Südtirolpass nutzbar sind. Das ist für die Südtiroler schon ideal. Was durchaus zum Nachdenken anregt, sind tatsächlich die Kosten für einheimische Familien bei der Nutzung von privat geführten Aufstiegsanlagen, die aber beim Bau mit öffentlichem Geld unterstützt worden sind. Da hat die Diskussion, so glaube ich, schon begonnen – es kommt ja auch stark die Forderung danach: Uns wird oft vorgerechnet, was es eine Familie kostet, wenn sie zum Beispiel auf die Seiser Alm will.

Zwei nicht in der Gemeinde ansässige Erwachsene mit minderjährigen Kindern zahlen 52 Euro für die Berg- und Talfahrt.

Das ist nicht ohne. Aber das gilt anderswo genauso, zum Beispiel am Kronplatz. Das Land als Land hätte all die Seilbahnen, die in der Zeit des Aufbaus entstanden sind, so schnell wahrscheinlich nicht realisieren können. Jetzt ist das einfach nochmals zu überdenken. Ich komme wieder auf die Raumordnung zurück, dort ist es dasselbe. Es hat eine Zeit gebraucht, in der wir bauen haben müssen, in der wir Wohnungen, Gewerbegebiete, Tourismus gebraucht haben. Jetzt ist eine Zeit, in der uns die Begrenztheit klar wird und wir anfangen, anders zu denken. Und da kann man nicht einfach dasselbe Kriterium hernehmen, das vor 30, 40 Jahren einmal richtig war für unser Land.

Rechtlich ist die Bahn für Marinzen–Puflatsch frei. Das endgültige Projekt wird einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) unterzogen, danach muss es nochmals politisch bewertet werden. Die Landesregierung wird sich also erneut damit befassen müssen. Sehen Sie die Würfel schon gefallen oder halten Sie es für möglich, dass die politische Entscheidung – trotz anderer Vorzeichen – negativ ausfallen wird?

Ja. Ich gehe davon aus, dass die Diskussion unter dem Licht von heute und ernsthaft geführt wird – und dass man sich auch mit den Fragen beschäftigt, die Sie gestellt haben: Aufstiegsanlagen als im öffentlichen Interesse oder von Privaten geführt? Wie können wir Einheimische besser unterstützen, ihnen entgegenkommen?

Bleibt abzuwarten, ob Sie bei dieser Diskussion dann dabei, also noch Mitglied der nächsten Landesregierung sein werden.

(lacht) Das ist die Frage. In den noch verbleibenden Monaten dieser Legislaturperiode wird man eine weitere Diskussion jedenfalls tunlichst vermeiden.

 

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Josef Fulterer Fr., 11.08.2023 - 06:14

Von Tschenadui unterhald der West-Seite von Puflatsch + darunter, kommt ein großer Anteil des Trinkwassers vom Hauptort Kastelruth.
Will man noch mehr Besucher auf Puflatsch schleppen, die alle nicht ganz dicht sind?

Fr., 11.08.2023 - 06:14 Permalink
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Herta Abram Fr., 11.08.2023 - 10:02

Schönes Interview. Hehre Ziele. Zur Erreichung, muss die SVP bereit sein, "(etwas) Macht abzugeben".
- Um die gegenwärtigen Ökosozialen Herausforderungen meistern zu können, müssen diese überparteilich behandelt und mitgetragen werden.
Das ginge, wenn Macht(erhalt)trieb und Ego vor der Landhaustür bleiben.

Fr., 11.08.2023 - 10:02 Permalink
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Salto User
Manfred Gasser Fr., 11.08.2023 - 12:47

Könnte der Landtag nicht auch das Projekt genehmigen, mit der Auflage, dass es keine Beiträge gibt? Weder jetzt für den Bau, noch später für die Instandhaltung? Sozusagen das Gegenteil von Planwirtschaft.

Fr., 11.08.2023 - 12:47 Permalink
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Josef Fulterer Sa., 12.08.2023 - 06:26

Antwort auf von Dietmar Nußbaumer

Bereits seit Magnago durften die Landesräte ihr SEGENs-volles WIRKEN mit öffentlichem Geld unterstützen.
Der Durnwalder hat sich an dieser fraglichen Methode zur s ü c h t i g-Machung der Südtiroler mit-beteiligt, um den Magnago mit den Vorzugsstimmen zu übertreffen.
Auch der derzeitgen Landes-Regierung ist es gelungen, damit mehrere besonders fette + mehr als überflüssige Böcke zu erlegen, bzw. mehrere Alles e h e r als KLIMA-gerechte BAUTEN + Anlagen + fragliche Beteiligungen zu ver-brechen und "viele besonders absurde INVESTITIONEN der Bürger zu befeuern!"

Sa., 12.08.2023 - 06:26 Permalink