Josef Stricker: "Politik im stillen Kämmerlein funktioniert nicht mehr"
Herr Stricker, von Leserbriefseiten bis hin zur jüngsten Kundgebung vor dem Landtag regiert derzeit die BürgerInnen-Wut. Haben Sie so eine Stimmung schon einmal erlebt in Südtirol?
Ich wäre mit 75 Jahren ja eigentlich alt genug dafür und habe sicher schon einiges erlebt. Doch eine Erregung in solch einem Ausmaß ist mir bisher nicht untergekommen oder zumindest ist es mir nicht bewusst.
Nicht einmal in den Umbruchsjahren rund um die Achtundsechziger?
Das war damals eine andere Form des Aufstandes, die sich auch viel mehr auf die Arbeiterschaft sowie Studenten und Oberschüler beschränkt hat. Die breite Bevölkerung war da sehr viel weniger involviert.
Beschimpfungen, Buhrufe, Tränen: Am heutigen Mittwoch hat sich vor dem Landtag deutlicher als je zuvor gezeigt, wie groß die Enttäuschung des Volkes über seine politischen VertreterInnen ist. Zu Recht?
Ich kann den Unmut schon verstehen. Obwohl man wirklich sagen muss, dass all die Fakten rund um Politikerpensionen keineswegs neu sind. Denn das gegenwärtige System geht in seiner Substanz zurück auf die 1960er Jahre. Neu ist jetzt natürlich, dass in den Medien plötzlich all diese riesigen Summen aufgetaucht sind. Und das hat nun meines Erachtens das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen gebracht.
Obwohl, wie zumindest anfangs immer wieder als Verteidigung gebracht wurde, mit dem alten System noch höhere Summen geflossen wären...
Ich denke, ohne diese Vorschusszahlungen wäre wahrscheinlich gar nicht viel passiert. Die Abgeordneten hätten ihre alten Renten weiterbezogen und es wäre niemandem aufgefallen. Jetzt dagegen sind diese Beträge aufgetaucht sind und haben Gesichter. Denn es geht nicht mehr um eine große, anonyme Masse, diese Bezüge sind ja zuordenbar, haben einen Vor- und Nachnamen. Dazu kommt noch der Eindruck, dass man die Sache mehr oder weniger verschleiert hat – auch wenn das nicht einmal so ist. Denn das entsprechende Gesetz war schließlich nicht unter Verschluss, sondern für alle zugänglich. Also, wie gesagt, ich kann den Unmut bis zu einem gewissen Grad verstehen, aber teilweise habe ich auch den Eindruck, dass man dabei ist zu übertreiben.
Die Emotion ist sicher eine wichtige Sache. Doch nicht minder wichtig ist der Gebrauch des Hausverstandes und der Vernunft. Und beides kommt mir derzeit ein klein wenig zu kurz.
Es sieht so aus, als hätte die Geschichte eine Eigendynamik bekommen, die schwer zu stoppen scheint...
Ja, vor allem, weil alles auf die emotionale Seite verlagert wird. Und die Emotion ist zwar sicher eine wichtige Sache. Doch nicht minder wichtig ist der Gebrauch des Hausverstandes und der Vernunft. Und beides kommt mir derzeit ein klein wenig zu kurz.
Sie sagen, die Veröffentlichung der Vorschusszahlungen hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Womit war das denn bereits gefüllt?
Nun, die Politik hat landauf landab seit 2008 ununterbrochen den sogenannten Sparzwang gepredigt: Alle müssen den Gürtel enger schnallen, die verfügbaren öffentlichen Gelder werden knapper – und dann tauchen wie ein Blitz aus heiterem Himmel diese Zahlen auf. Das ist das berühmte Wasser-Wein-Prinzip, also Wasser predigen und Wein trinken. Meiner Einschätzung hat dieser Grundwiderspruch die Emotionen derart hochgekocht.
Das Phänomen der WutbürgerInnen ist aber keineswegs mit dem Südtiroler Rentenskandal entstanden, sondern schon seit Jahren in ganz Europa bzw. global zu beobachten. Stehen wir mitten in einer gesellschaftlichen Umbruchsphase?
Wir stehen vor allem in einer weltweiten Krisensituation, in die wir jetzt nach über 40 Jahren mehr oder weniger kontinuierlichem Wachstum auch in Südtirol hineinkatapultiert wurden. Das heißt, die Phase der Hochkonjunktur wurde durch eine Stagnation, ja möglicherweise auch durch eine leichte Rückwärtsentwicklung abgelöst. Und das Problem ist, dass wir alle zusammen mental eigentlich überhaupt nicht auf diese neue Situation vorbereitet sind.
Weder die Politik noch das Volk?
Weder die einen noch die anderen. Auch deshalb darf man, denke ich, jetzt auch nicht übertreiben, denn die Politik ist nach wie vor wichtig und mit Wut und Empörung allein kann man nicht reagieren. Und schon gar nicht eine gute Autonomie verwalten. Deshalb sollten jetzt alle wieder ihren Verstand einschalten und nicht nur den Emotionen Tür und Tor öffnen.
Ich glaube, es ist jetzt notwendig, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, in der Politik sehr oft am Bürger vorbei im stillen Kämmerlein gemacht wurde. Das wird in Zukunft nicht mehr gehen.
Doch das ist eben der leichtere Weg....
Ja, natürlich ist es der bequemere Weg, nun alle PolitikerInnen in einen Topf zu werfen und alle zu verurteilen, aber das entspricht auch wieder nicht den Tatsachen. Außerdem sollte man von PolitikerInnen nicht zu ideale Vorstellungen haben. Sie sind halt Menschen wie wir alle, mit allen Stärken und Schwächen und Widersprüchen.
Mittlerweile sind zumindest die meisten amtierenden von ihnen auch einsichtig. Doch alle Entschuldigungen und Rücküberweisungen scheinen bisher nicht auszureichen, um die Gemüter zu besänftigen. Was braucht es nun, um aus dieser Situation herauszukommen?
Was die PolitikerInnen, die jetzt am Ruder sind, insbesondere die Neuen, lernen können, ist, dass man in der Politik absolut alles transparent gemacht und viel Zeit darauf verwendet werden muss, mit den BürgerInnen zu kommunizieren. Ich glaube, es ist jetzt notwendig, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, in der Politik sehr oft am Bürger vorbei im stillen Kämmerlein gemacht wurde. Das wird in Zukunft nicht mehr gehen.
Also unter dem Strich birgt das derzeitige Fieber auch die Chance auf einen Neuanfang?
Krisen sind immer auch eine Chance, nie nur eine Gefahr. Nun hängt es davon ab, ob diese Chance auch genutzt wird. Von den PolitikerInnen und von den BürgerInnen. Denn auch diese sind in die Pflicht zu nehmen.
Zum Beispiel, indem sie sich nicht nur vom Bauch treiben lassen?
Ja, denn wenn man überlegt und mit Hausverstand an die Dinge herangeht, gelingt es weit besser, das Gute zu würdigen und das weniger Gute zu kritisieren und anzuprangern.
Danke ...
... Salto, dass es euch gibt :-)
Liebe Frau Pitro,
ich finde da Interwiew sehr gut, nur eine Frage haben Sie falsch gestellt: Das war keine "Eigendynamik", das war gezielt gesteuert von den Südtiroler Medien. Über das Warum kann man diskutieren, aber wenn das die heiligen Herrn am Weinbergweg so nicht gewollt hätten, wäre das so auch nicht passiert!