Tourismus als Nimmersatt
Schlafende Riesen soll man nicht wecken, heißt es. In Südtirol gibt es einen Giganten, der gerade dabei, sich genüsslich zu strecken. Aber was, wenn der Moloch Tourismus erst einmal voll erwacht ist? Ist er dann noch zu halten? Eine Frage, die an diesem Mittwoch Abend im Meraner Ost West Club im Raum steht – und auf die sowohl Thomas Aichner als auch Hans Heiss eine einhellige Antwort haben: Wird die Bestie Tourismus nicht gezähmt, wird sie Opfer fordern.
“Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem weiteres Wachstum zu Kannibalismus führen kann”, sagt Aichner. Als Tourismusfachmann und Kommunikationsleiter der IDM weiß er wie Heiss als Grüner, Historiker und Gastwirte-Spross: Im Tourismus ist es nicht erst fünf, sondern schon vier vor zwölf. Nach stagnierenden Gästezahlen und flauer Investitionslust ist die Branche seit 2014 wieder im Aufwind. Und zwar so kräftig, dass es vielen zu viel wird.
Eine Rekordzahl jagt die nächste, 2017 ist Südtirol bei über 32 Millionen Nächtigungen angelangt. 260.000 Kubikmeter an Bauvolumen kamen 2016 und 2017 im Beherbergungsbereich dazu. Die Bettenzahl schießt nach oben, das gesetzlich festgelegte Limit von 229.088 Betten ist nicht fern. Doch der Koloss ist gierig – was Anlass gibt, sich Gedanken zu machen.
Weiter füttern oder fasten?
Über die zwei Seiten der Medaille, die am Titan Tourismus baumelt und die Hans Heiss als erhellende “kulturelle Öffnungsfunktion” und dunkle “spürbare Auswüchse wenn Gäste als Feinde empfunden werden” gegenüberstellt. Über das, was Thomas Aichner als Dilemma zwischen der “menschlichen Neugierde als Grundlage des Tourismus”, der “Faszination Reisen” einerseits und der Gefahr, in den Massentourismus abzudriften andererseits, beschreibt.
“Tourismus und Landwirtschaft sind zwei Sektoren, die historisch gesehen mit Identität zu tun haben und großes Ansehen und politischen Rückhalt genießen.”
(Hans Heiss)
Dazu kommt in einem kleinen Land wie Südtirol der “Futterneid” (Aichner). Nur 7.400 Quadratkilometer Fläche, davon nur 5,5 Prozent bebaubar – 1,7 Prozent sind es bereits. Da ist der Kampf um Raum, um die Durchsetzung von Interessen, die nicht immer im Sinne der Allgemeinheit sind und von starken Lobbys vorangetrieben werden, der Kampf um Akzeptanz vorprogrammiert. Zumal die Touristiker im Land – so die Analyse von Thomas Aichner – “schnell, unkontrollierbar, nicht steuerbar” sind – wie ein “Schwarm von Spatzen”. Unter dem sich “auch Wölfe” befinden, wie Hans Heiss anmerkt. Marktmächte wie große Urlaubsressorts graben historisch kleinstrukturierten und häufig aus dem Bäuerlichen gewachsenen Tourismusbetrieben das Wasser ab.
Wohin geht die Reise?
Ressort-Klötzen kann Aichner nichts abgewinnen. Er weiß, dass die Branche nicht blindlings in ihr Verderben laufen wird: “Sie muss sich der Diskussion stellen” – aber nicht nur, ist er mit Heiss einig. Die Debatte um seine Zukunft geht über den Tourismus hinaus, es geht um gesamtgesellschaftliche Fragen, darum “welches Land wir werden wollen”, meint Heiss. Unabdingbar für Aichner ist dabei, “mit- statt übereinander zu reden” und “extrem wichtig: dabei nicht zu polemisieren – wie es etwa beim Wolf passiert”.
“Ich sehe das Glas nur halb, aber immerhin halb voll.”
(Thomas Aichner)
Vor Augen halten – und auch hier sind sich Touristiker und Grüner einig – gilt es, “dass alles begrenzt, alles endlich ist”. Nicht nur im philosophischen Sinne, sondern ganz konkret: Ressourcen, Raum, Belastbarkeit. Das Stichwort “Obergrenze” fällt – “ein harter Begriff, der aber zu diskutieren ist”, sagen Heiss und Aichner –, von Nachhaltigkeit ist die Rede – “eines der zwei Treiberthemen in der IDM” (Aichner) – von “Ökologisierung”. Doch immer wieder kehrt die Diskussion auf die Metaebene zurück.
“Womit wir wirtschaften, ist unsere Heimat”, mahnt Thomas Aichner die zahlreichen Zuhörer, darunter Vertreter der Hotellerie, der Lokalpolitik und aus dem Marketing. “Es ist das Haus Südtirol, das wir übergeben müssen”, stimmt Heiss ein.
Es ist ein Balanceakt, es geht um Maßhalten, um Verantwortung, vor allem künftigen Generationen gegenüber. Und darum, die Einheimischen auf der Reise Richtung Tourismusland 2.0 mitzunehmen. “Der Südtiroler Tourismus muss auf die Südtiroler ausgerichtet sein”, fordert Thomas Aichner. Denn wie sollen sich Gäste in einem Lebensraum wohl fühlen, wenn es die Menschen, die dort leben, nicht tun?
Der Moloch Tourismus wird Genügsamkeit lernen müssen. Denn eines steht für die beiden Gäste an diesem Abend außer Frage: “Wurschteln, wachsen weiter so” – das geht nicht.
Es war ein sehr interessanter
Es war ein sehr interessanter und aufschlussreicher Abend. Wir bedanken uns bei unseren Gästen, dem Moderator, dem interessierten Publikum und bei der Schreiberin für die wirklich gute Zusammenfassung der Diskussion. Auf www.ostwest.it und auf unserer Facebook-Seite folgen nächste Woche dann noch die Fotos des Zigori Clubs.