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Chronik | 

Seiltänzer ohne Netz

Nach seiner Verurteilung besteht Silvio Berlusconi auf einer
"politischen Lösung", die ihm die Fortsetzung seiner politischen
Laufbahn ermöglicht. Andernfalls droht er mit dem Sturz der
Regierung. Premier Enrico Letta wird damit zu einem Seiltänzer
ohne Netz.
Hinter vorgehaltener Hand raunen sich die Hardliner in 
Silvio Berlusconis PdL bereits den Wahltermin zu: 24. November.
Mit der Weigerung des Partito Democratico,  einer Lösung für
Berlusconis Weiterverbleib in der Politik zuzustimmen, hat
die Strategie zur Destabilisierung der Regierung voll eingesetzt.
Enrico Letta ist ab sofort ein Premier auf Abruf, ein Seiltänzer
ohne Netz, der jeden Moment stürzen könnte - mit verhängnisvollen  Folgen. Ziel der Strategien ist es, den politischen
Gegner für ein Scheitern der Regierung verantwortlich zu
machen. Kein einfaches Unterfangen, denn die Lager sind
keineswegs klar abgegrenzt. An beiden politischen Fronten
agieren Falken und Tauben, die auf den Sturz der Regierung
hinarbeiten oder ihn verhindern wollen. Der PDL beharrt
auf einer "politischen Lösung" nach der Verurteilung
Berlusconis, etwa einer Umwandlung des Hausarrests in
eine Geldstrafe. Andernfalls sei eine Fortführung der Koalition
nicht vorstellbar. Daß Berlusconi seine eigenen Interessen
mit jenen des Staates verwechelt, ist nicht neu. Daß sich das 
erst im März konstituierteParlament nun vier Wochen Urlaub genehmigt, ist dem
angeschlagenen Ruf der Kaste kaum dienlich. Nach Wiederaufnahme der
Arbeiten ist ein Wettlauf gegen die Zeit zu befürchten. Da
Neuwahlen im Dezember schlecht vorstellbar sind und Berlusconi
seinen Hausarrest werbewirksam ausschlachten will, müßte
noch im September im Eiltempo ein neues Wahlrecht verabschiedet 
werden. Den Eindruck, aus rein persönlichen Gründen Neuwahlen 
anzustreben, will Berlusconi vermeiden. So beginnt der PDL bereits jetzt
mit einer deutlichen Verschärfung des Tons in wirtschaftspolitischen
Fragen. Beispiel: IMU. Daß Finanzminister Fabrizio Saccomanni
neun Vorschläge zur Immobilensteuer unterbreitet,
deren völlige Abschaffung aber für unsinnig hält, kommt dem
PDL gerade recht. Die Steuer sei ersatzlos zu steichen, so der
Popolo dell Libertá in Anspielung an sein populistisches 
Wahlversprechen. Der zerrissene Partito Democratico befindet
sich indessen in einem schwierigen Dilemma. Er fordert den Rücktritt
Berlusconis und riskiert damit auch das politische Überleben
des eigenen Premiers. Die Partei kann sich zu keiner Entscheidung
durchringen, sie verschiebt die Termine für Parteitag und  Vorwahlen
von Woche zu Woche. Die vierwöchen Parlamentsferien werden
beide Lager nutzen, um an ihren Strategien zu feilen. Dann
schlägt die Stunde der Zündler und Heckenschützen aller 
Couleurs, die trotz politischer Gegensätze ein Ziel eint:
Enrico Letta ein Bein zu stellen. Der Premier gibts zuversichtlich:
"Meine Regierung sitzt fester im Sattel als viele glauben." Der Regierungschef droht seinerseits: "Stürzt die Regierung, müssen die Italiener im September und Dezember die IMU bezahlen."
Prognosen scheinen angesichts der verworrenen Situation
schwierig. Denn einer der wichtigsten Protagonisten  in der
politischen Arena wird alles unternehmen, um einen Sturz
der Regierung zu verhindern: Giorgio Napolitano könnte mit
einem unerwarteten Rücktritt allen einen Strich durch die Rechnung 
machen.