Politik | Streitkultur

„Es wird mehr Konflikte in Südtirol geben“

Haben die Südtiroler in Sachen Protest jegliche Manier verloren. Oder nie eine Diskussionskultur gelernt? Der Meinungsforscher Hermann Atz bezieht Stellung.

"Mahnwache ist ein großes Wort", sagt Politologe und Meinungsforscher Hermann Atz. Er ruft zu einer neuen Streitkultur in Südtirol auf. Zuhören und mitreden. Nicht beschuldigen.

Buhrufe, Schimpfwörter, Mobilisierung im Netz über Facebook. Etwas ist aus dem Ruder gelaufen in Südtirol, seit die Politikerrenten im Februar dieses Jahres präsentiert wurden. Und es läuft immer noch über. Die Präsentation der Leitlinien der Gesundheitsversorgung Südtirol 2020 war für Martha Stocker ein Spießrutenlauf, Andreas Fabi, Generaldirektor des Sanitätsbetriebes befand: "So krass war es noch nie." Meinungsforscher Hermann Atz bewertet dies so: „Das Ganze weist darauf hin, dass es auch eine gewisse Krise demokratischer Entscheidungsprozesse in diesem Land gibt. Und nicht nur eine Lust von BürgerInnen zu protestieren und lauthals ihre Interessen zu formulieren.“

Welche Worte finden?
Ein Volk, das sich bislang alles bieten ließ, will nun gehört werden? Stampft auf, tobt, schreit. Ein höheres Niveau „von den Leuten“ habe sich Martha Stocker erwartet, hatte die Landesrätin selbst vor einigen Tagen im Radio gesagt. Dass sie mit „Fock du“ in Sterzing empfangen wurde, lässt nicht kalt. "Es wäre falsch zu sagen es macht mir nichts aus“, gesteht Stocker. Dass es so weit gekommen ist, sei "bedauerlich" bewertet Atz im Morgentelefon auf RaiSüdtirol, "eigentlich war der Plan der Landesrätin ja einfach mal ihre Konzepte vorzustellen und man fragt sich jetzt, warum so eine Veranstaltung organisiert wurde, bevor Informationen geflossen sind, geschweige denn Entscheidungen getroffen wurden.“ Mahnwachen in Innichen, Sterzing und Schlanders, „Mahnwache - das ist ein großes Wort“, urteilt der Meinungsforscher. "Wenn wir an die kriegerischen Ereignisse im Nahen Osten geht ist dieser Begriff angemessen“, doch im  Verteilungskampf zwischen Zentrum und Peripherie?

Mediale Zweischneidigkeit
Auf  ihrer Pressekonferenz am 16. Oktober zieht Martha Stocker Bilanz von ihrer Rundreise in den Bezirken und präzisiert einmal mehr: „Die Peripherie soll nicht zugunsten der Zentren benachteiligt werden." Vielmehr soll ein Netzwerk entstehen, bei dem "jedes Krankenhaus eine eigene Rolle spielt, die Verwaltung solle mehr noch als bisher einheitlich geschehen.“  Will das Volk nicht zuhören, wollen Medien nicht informieren? Atz ist überzeugt: Auch die Medien reiten den wild gewordenen Gaul der Bürgerproteste, und er fragt:  "Wo sind die wirklichen Informationen über die Gesundheitsreform?"

Zuhören, beim Reden
Wurden die SüdtirolerInnen bisher nicht gehört, wenn sie gesprochen haben? Müssen sie schreien, um sich bemerkbar zu machen? Wer lauter schreit, dem wird geantwortet? "Solche Ereignisse haben wir in Südtirol noch nicht oft gehabt", erklärt Atz, "offensichtlich gehört es zur politischen Unkultur Italiens, dass man ziemlich unflätig und aggressiv wird." Politiker im italienischen Parlament als Negativbeispiel, "das schwappt jetzt auch auf Südtirol über."
Martha Stocker bleibt bei bei ihrer Linie, trotz Buhrufen und Beschuldigungen weiß sie: „Wir haben eine Gesamtverantwortung unser gutes Gesundheitssystem für die Zukunft abzusichern. Wenn man dies als Teil von sich spürt, sind die Dinge anzugehen.“ Eine Zerreißprobe für die SVP können die Reformen, die nicht nur im Gesundheitswesen anstehen, durchaus sein. Hermann Atz: „Es wird in Zukunft öfter Konflikte in Südtirol geben, der Wind wird rauher, auch weil es nicht mehr  für alle mehr gibt. Wir kriegen 800 Millionen Euro weniger im Jahr aus Rom, es ist weniger zu verteilen.“

Hinter den Mahnwachen, so befindet der Politologe, der das Meinungsforschungsinstitut Apollis leitet „stecken ganz bestimmte Gruppen, sowohl die lokale Politik, als auch die lokalen Wirtschaftsvertreter und Vertreter der Gewerkschaften, die das Gefühl haben je eher man diesen Widerstand leistet, umso eher kann man seine Interessen durchsetzen.“  Die Verantwortung liegt bei jedem Einzelnen, besonders aber bei Meinungsmachner, Multiplikatoren. Mehr Streit in Südtirol, warum nicht? Doch mit Streitkultur. „Es gibt offensichtlich die Bereitschaft von BürgerInnen sich für bestimmte Anliegen einzusetzen", analysiert Atz. „Die könnte auch ganz anders genutzt werden.“

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Oskar Egger Sa., 18.10.2014 - 18:02

STREITkultur hat es bisher in der Tat nicht gegeben, denn das Meiste wurde fast schon harmoniesüchtig unter den Teppich gekehrt. Die Internetforen förden die Angriffslust und den oft unguten Ton, da die direkte Konfrontation fehlt. Streitkultur kann man lernen, wenn man aufhört, Konflikte zu negativieren und sich einer fairen Auseinandersetzung stellt. Was ich nicht glaube, ist, dass die Bürger allzusehr von irgendwelchen ominösen Hintermännern aufgehetzt werden. Ich meine, die Bürger sind es müde, nicht ernst genommen zu werden, das hört und spürt man überall.

Sa., 18.10.2014 - 18:02 Permalink