Der Frust der Vollautonomisten
Wie sich aus den aktuellen Berichten aus Rom unschwer ablesen lässt, wird Südtirol sehr geschwächt aus der Regierungsperiode Letta hervorgehen. Für Juli wurden uns bessere Früchte des SVP/PD-Deals versprochen. Der Toponomastik-Deal war wohl als solcher „Erfolg“ zu verstehen. In der ausklingenden Ära Durnwalder wird ein größerer Wurf nicht mehr zu erwarten sein und „der Neue“ wird sich so schnell nicht gegen die Granden in Rom konstruktiv behaupten können. Der nächste größere Coup in Sachen Vollautonomie ist also nicht wirklich greifbar, eine Roadmap überhaupt nicht schriftlich ausformuliert. Dass Südtirol trotzdem mit sinnhaften Vision ins Rennen gehen könnte, beweisen nicht etwa unsere etablierten Parteien, sondern die 10 Thesen von Thomas Benedikter, über dessen neunte These ich hier nachdenken möchte.
3 Länder – 3 Verlierer
Die Erkenntnis dieser Tage ist, dass Südtirols Autonomiepolitik eine Schönwetterpolitik ist. In den Stürmen der Wirtschaftskrise kümmern wir die Steuermänner schlagseitigen Schiffes Italien herzlich wenig. Es geht nichts mehr vorwärts. Abkommen, ob nun in Mailand oder zwischen Parteien geschlossen, geben keine Planungssicherheit. Das Fundament wirkt so weich wie schon lange nicht mehr. Aber wir sind ja nicht die Einzigen: schauen wir nach Sondrio, sehen wir alpine Lethargie par excellence. Im kommissarisch verwalteten Belluno spielt sich ein buchstäbliches Drama ab, autonome Träume ausgeträumt. Derweil steht auch die Zukunft von Trentinos Autonomiestatus in den Sternen. Keine dieser Provinzen, wir inbegriffen, hat noch Trümpfe im Ärmel. Alleine sind allesamt zu schwach, um im krängenden Schiff auf der Kommandobrücke auch nur vorsprechen zu dürfen.
Und trotzdem probieren wir es mit den alten Hausmitteln weiter. Jede Provinz versucht für sich, ihren Stich zu machen. Von Solidarität und Allianzen ist dieser Tage Politik nicht gezeichnet. Wären wir nicht stärker, wenn wir anstatt Einzelkämpfertum eine strategische Allianz in die Waagschale werfen würden?
Salva la Regione
Letta möchte sämtliche Provinzen abschaffen. Autonomiegeschützerweise freut man sich hierzulande darüber, weil es Gelegenheit bieten könnte, die Region Trentino-Südtirol endgültig abzuschaffen. Einmal historische Episoden von Selig Alcides Streiche bis Magnagos „Los von Trient“ überwunden, was ist so falsch an dieser Region, dem territorialen (fast) einheitlichen, seit dem ersten Weltkrieg abgespaltenen historischen Teil Tirols ? Die Region, so wie sie heute ist, ist zu teuer, hat unklare Kompetenzen und ineffektive Gewaltenteilung mit den Provinzen. Also weg damit. Nur, ist die beste Gegenmaßnahme tatsächlich, die Region Trentino-Südtirol ersatzlos abzuschaffen? Technisch gesehen stimme ich mit Benedikters These 9 vielleicht sogar überein, aber semantisch müssen wir damit anders umgehen!
Die Verfassungsreform ist die Gelegenheit, die wir beim Schopf packen müssen. Aber es geht mir ein bissel wie den SVPlern, denen es unheimlich wird, das mit der Region Südtirol durchzuziehen, ohne das Trentiner Schicksal in trockenen Tüchern zu wissen. Nicht weil die Schneid fehlt, sondern weil die Region Südtirol möglicherweise nicht der intelligenteste der möglichen Ansätze ist.
Ich will jetzt nicht noch einmal unsere fragwürdige Kollegialität dem Trentino (als dem früheren „Südtirol“) gegenüber hinterfragen, sondern stelle die eine zentrale Frage bewusst „unemotional“ und pragmatisch: wie bekommen wir mehr Gewicht in Rom? Als Region Südtirol mit einem geschwächten – womöglich als Nicht-mehr-Provinz in die Region Veneto eingegliederten – Euregiopartner Trentino, oder als partnerschaftliche Region mit zwei komplett selbstständigen und unabhängigen Autonomien (wir müssen ja nicht „Provinzen“ dazu sagen) ? Wenn die Trentinerinnen und wir auch nur annährend übereinstimmende Zukunftsvisionen haben, macht es dann Sinn, das Gewicht von einer Million Menschen zu bündeln, oder ist es besser, ihr Gewicht in zwei halben Millionen zu verwässern. Divide et impera. So neu ist diese Erkenntnis in Rom nicht. Dort reibt man sich in die Hände, dass unser derzeitiges Bestreben genau in diese Richtung führt.
Es mag mehr oder weniger wahrscheinlich zu sein, wie es im Falle einer Trennung von Südtirol und Trentino mit dem Autonomiestatus des letzteren weitergehen wird. Die internationale Verankerung der Südtiroler Autonomie war bisher indirekt auch immer ein Schutzmantel für unsere südlichen Nachbarn. Auf getrenntem Wege steuern die Trentiner einer ungewissen Zukunft entgegen, wobei die Argumente, warum Trentino in finanzschwachen Zeiten eine ordentliche Autonomie erhalten sollte, allesamt schlagbar sind.
Je mehr wir Trentinos Autonomie stärken, umso leichter wird es für uns, noch das eine Quäntchen mehr für uns herauszuhandeln. Je schwächer das Trentino, umso mehr werden unsere autonomen Errungenschaften in Frage gestellt werden. Sobald wir aber uns von Trentino aber trennen, werden wir keinen Einfluss mehr auf dessen Schicksal haben, außer ein paar Stimmchen in Senat und Kammer.
3 Province Autonome – 1 Regione Dolomiti
Ich will hier nicht kleckern sondern klotzen und bemühe jetzt einmal diesen Slogan aus dem Bellunesischen. Obwohl, der Begriff „Province“ wird ja abgeschafft, sagen wir also einfach 3 Autonomie – 1 Regione Dolomiti. Was wäre eigentlich so falsch an der Idee, wenn wir Belluno in unsere Region mit hereinholen würden ? In einer ausgehölten Region müssten wir uns ja keine Sorgen mehr darum machen, dass deutsche und ladinische Etnien überstimmt werden könnten. Dass wir etwas von unserem Kuchen abgeben müssten? A ja, daher weht der Wind. Alles hat seinen Preis. Eine Autonomie für Belluno müsste erkauft und aufgebaut werden, wohl hauptsächlich mit unseren und mit Trentiner Geldern. Aber überlegt doch einmal, welch Investition wir tätigen würden! Nein, ich habe hier nicht die goldenen zehn Punkte zu bieten, die jeden und jede sofort von der Vorteilhaftigkeit überzeugen würden. Ich könnte mit der Alemagna beginnen und mit den Unesco-Dolomiten argumentieren, aber ich finde, es zeichnet sich etwas viel Größeres und langfristig viel Weittragenderes heraus. Vielleicht können wir das gemeinsam herausarbeiten, begreifen, ich kann hier nur einen Startpunkt setzen.
Was mir in diesem Gedankenexperiment vorschwebt, ist also eine Region, die nur noch als formaler Rahmen für drei komplett unabhängige und selbstständige Autonomien fungiert. Drei gleichwertige Partner, die sich gegenseitig in ihrer Autonomie stützen und wenn immer notwendig, gemeinsam abgestimmt nach außen hin auftreten, speziell in Rom. Die Verfassungsreform könnte uns die Gelegenheit bieten, die Statuten dieser Region in unserem Sinne neu auszuformulieren. Die gerettete Region könnte somit das entscheidende Werkzeug sein, um unsere und Italiens Zukunft aktiv mitzugestalten.
Föderaler Nordosten
Eine Region aus drei autonomen Provinzen (BZ, TN, BL), die plötzlich direkt mit einer anderen autonomen Region (PN, UD, GO, TS) benachbart ist, könnte eine ganz neue Dynamik in das verstaubte Italien bringen: ein föderaler Nordosten, welch Signal an den restlichen, italienischen Stiefel! Der Dolomitenbogen wäre autonom geschlossen. Eine gesunde Grundlage für einen starken nordöstlichen Flügel in Italien. Komplett neue Perspektiven täten sich da auf. Wir wären endlich eine ernstzunehmende Größe. Anstatt ausschließlich Ethnien und Geldbeutel zu schützen, könnten wir selbstbewusst Italien den Weg ins Europa der Moderne weisen. Ein Dreh-und Angelpunkt für interregionale Zusammenarbeit von der Schweiz bis nach Istrien.
Euregio
Und wenn Trentino keine Autonomie erhält? Ist es dann nicht am wahrscheinlichsten, dass Trentino so wie Belluno in die Region Veneto eingegliedert wird? Mit wem bitte soll die EVTZ zusammenarbeiten, wenn es das Trentino als territoriale Institution nicht mehr gibt? Wollen wir eine Euregio, die auf Venedigs Lagunen verhandelt wird? Opfern wir die Euregio der Autonomen Region?
Wenn hingegen Belluno in unserer Region wäre, würde dann nicht das ethnische Gleichgewicht in der Euregio purzeln? Vonwegen! Mit bellunesischer Verstärkung auf der italienischen Seite könnten wir endlich wieder aktiver auf Vorarlberg zugehen. Einladen und auf Augenhöhe vollwertige Mitgliedschaft anbieten, meine ich.
Eine Euregio vom Boden- bis zum Gardasee, also mit Belluno und Vorarlberg hätte über 2,3 Mio Einwohner und ca. 33.000 km², eine ernstzunehmende Größe in Europa und vor allem mit dem Potential, eine der treibenden Kräfte in den Alpen zu werden. Ist nicht genau dies unser selbstbewusstes Ziel? Warum sollten wir uns mit weniger als dies zufrieden geben?
Und natürlich: wir dürfen uns gerne als Tiroler fühlen, müssen der Euregio aber nicht den Stempel eines Großtirolertums aufzwingen. Die Euregio definiert sich primär als europäisch orientiertes Zukunftsmodell und nicht als historisches Konstrukt. In den Statuten möge traditionelles Tirolertum ebensowenig eine Rolle spielen wie Ethnien und Religionen. Eine Interregio eben im besten, europäischen, post-nationalen Sinne – ohne Bestrebungen zur Staatenbildung. Ich würde mir sogar wünschen, dass die territorialen Außengrenzen der Euregio bewusst unterbetont würden und thematische Zusammenarbeit mit anderen Ländern oder auch nur einzelnen Gemeinden zum einladenden Selbstverständnis der Euregio gehöre.
Wechselgemeinden
Natürlich wollen Fodom, Col und Anpezo zu Südtirol. Natürlich könnte Belluno einem solchen Wunsch schwerlich widersprechen, wenn es gerade in unsere rettende Region mit aufgenommen wurde. Natürlich wäre die Neuregelung der Region ein guter Anlass, um Pedemonte, Magasa und Valvestino ans Trentino anzuschließen. Natürlich könnte man mit neu formulierten Statuten auch Asiago und den restlichen Altopiano bedenkenlos willkommen heißen. Natürlich hätten wir aber auch die Größe, Sappada/Plodn den Status einer eigenen Gemeinde zu garantieren und gleichzeitig Bestrebungen, sich dem Friaul anzuschließen, freundschaftlich zu unterstützen. Lamon, Sovramonte und Taibon Agordino müssten die neue Situation wohl erst neu bewerten, aber die Gelegenheit, hier Selbstbestimmungsrecht gewähren, gäbe es allemal.
Die Gunst der Stunde
Die Regierung Letta strebt also eine Verfassungsreform an, während wir wegen der herbstlichen Wahlen nur begrenzt handlungsfähig sind. Bei einer prophezeiten Schwächung der SVP müssten wir uns sowieso eine Zeit lang mit uns selber beschäftigen, bevor Südtirol nach außen wieder konstruktiv handlungsfähig werden könnte. Heute beschäftigen wir uns mit Freistaat, Doppelstaatsbürgerschaft und Toponomastik.
Mein Aufruf: lasst uns in dieser Runde unsere Energien doch bitte in die Verfassungsreform stecken, damit wir jetzt das Fundament für eine selbstbewusste und starke Europaregion legen können. Auch die direkte Demokratie ist aufgefordert, nicht mit Scheuklappen den Blick nach innen zu fokussieren, sondern sich auch der interregionalen Außenpolitik zu verpflichten.
Ich schließe mich den zehn Thesen von Thomas Benedikter dankbar und vertrauensvoll an, aber bei These Numero 9, lasst uns nach den Sternen greifen, anstatt uns im üblichen, egozentrischen und kurzsichtigen Sumpf zu wuhlen. Sobald „der Neue“ die Geschicke unseres Landes fest in Händen hält, wird es zu spät sein, und das Rad der Geschichte wird sich bereits weitergedreht haben. Jetzt und heute muss gehandelt werden.