Kultur | Literatur

Jeder schreibt für sich allein

Im Rahmen der "Bücherwelten" wurde der buchlastige Dokumentarfilm von Dominik Graf über Schriftsteller im Nazi-Deutschland gezeigt. Erschreckend. Und lang.
Film
Foto: Piffl
  • „Das mit dem Draußenbleiben, das kommt gar nicht in Frage […]“, ist eine der vielen Textstellen im Dokumentarfilm von Dominik Graf mit dem Titel Jeder schreibt für sich allein. Der Schriftsteller Erich Kästner hat die Sentenz aus Meran in einem Brief an seine Mutter geschrieben, als er im März 1933 (nicht zum ersten Mal) in der Kurstadt weilte. Nicht nur Kästner – obwohl in Meran auf Urlaub (und im Ausland) –, beschäftigt sich im Jahr 1933 mit dem Draußenbleiben. Das Erstarken des Nationalsozialismus ist eine Sache, die damals alle Menschen und auch viele Autoren und Autorinnen beschäftigte. Einige handhabten es so, andere anders. 
    Gemeinsam mit den weitaus jüngeren Filmemachern Felix von Boehm und Constantin Lieb orientiert sich der Film entlang der Erzählung des Buches Jeder schreibt für sich allein von Anatol Regnier, Sohn von Pamela Wedekind und Enkel von Frank Wedekind. Der Film begleitet den literarischen Reiseleiter ins Literaturarchiv nach Marbach und an viele andere Orte, wo Schriftsteller und Schriftstellerinnen zwischen 1933-1945 Spuren hinterlassen haben. Oder eben nicht. Es geht um die vielen Versuche des Verdeckens und Verschleierns, des Abwartens, des Mitmachens, des Verleugnens. Der Film versucht – inhaltlich (weniger gestalterisch) – nicht eine Rückschau zu präsentieren, sondern sich punktuell in die Jahre des Schreckens einzunisten und entlang von ausgewählten Biografien ein breites Spektrum an Begebenheiten und Ausflüchten aufzuzeigen. Manchmal zu viel des Guten, oder besser gesagt: zu viel des Schlechten.
     

    Grafs Film ist kein Meisterwerk, aber er ist aktueller als man glauben möchte.


    Der Film beginnt geheimnisvoll mit zurückgebliebenen Schuhen, führt bald den literaturhistorischen Begleiter Regnier ein und wartet dann relativ rasch mit überdimensionalen Tintenklecksen auf. Es geht dabei nicht um die Tinte der Schreiberinnen und Schreiber, sondern um sogenannte Rohrschachtests, die der US-Psychiater Douglas M. Kelley zu einigen Nazi-Größen nach dem Krieg in Nürnberg machte. Daraufhin veröffentlichte Kelley sein Buch 22 Cells in Nuremberg, in welchem er über seine Erkenntnisse mit den Nazi-Verbrechern erzählt. Sein Befund: Die psychischen Defekte der Nazis seien „universell.“ Daraufhin springt der Film wieder zurück an den Anfang des Grauens, in die Jahre Anfang 1930, als Max von Schillings (ein Gegner der Weimarer Republik und erklärter Antisemit) als Nachfolger des Künstlers Max Liebermann zum Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin (später Akademie der Künste) gewählt wurde. Kurz nach der Reichstagswahl im März 1933 (als Kästner in Meran Tennis spielte!) war es gerade der von vielen jungen Autorinnen und Autoren angesehene Gottfried Benn, der in der Sektion Dichtung eine hemmungslose Gleichschaltung einforderte. Und nicht nur das. Benn verfasste mit Max von Schillings eine Loyalitätsbekundung für Hitler und verbot den Mitgliedern eine nicht-nazistische politische Betätigung. Im Radio verbreitete er seine Rede Der neue Staat und die Intellektuellen. Daraufhin schrieb Klaus Mann seinem einstigen Vorbild einen enttäuschten Brief aus dem Exil. Benn erkennt seine Verblendung allerdings erst Jahre später, als es bereits viel zu spät ist. 
    Benn wohnte ab 1937 bis zu seinem Tod 1956 in der Bozenerstrasse in Berlin. Im Nachkriegsdeutschland besuchte ihn dort hin und wieder der in Bozen geborene Schriftsteller Franz Tumler. Der Arzt und Dichter Benn verschrieb Tumler nicht nur Pervitin, eine euphorisierende und stimulierende Rauschdroge die einst auch als Panzerschokolade bekannt war und heute als Crystal Meth, nein, es wurde auch über Literatur geredet. Tumler – der im Film nicht vorkommt – erfand sich ab Mitte der 1950er Jahre literarisch komplett neu. Dass er dennoch Nazi-Romane geschrieben hat, bleibt Teil seiner Biografie. 

  • Trailer
    (c) Piffl Medien

  • In Grafs Dokumentarfilm geht es auch um das famose Begriffspaar Innere Emigration. Viele deutsche Autorinnen und Autoren zogen in diesen Jahren aufs Land, schrieben wie versteckte Publiziermaschinen – etwa Hans Fallada – weiter, ziehen sich zurück wie Kästner, der erst als anonymisierter Drehbuchautor der Filmkomödie Münchhausen (1943) wieder auftaucht. 

  • Flora und Kästner: Ein Tagebuch zum Kriegsende (das Kästner in Mayrhofen in Tirol verbrachte) wurde von Paul Flora illustriert. Das Buchcover ist auch im Dokumentarfilm "Jeder schreibt für sich allein" zu sehen. Foto: Salto.bz

    Oder sie sind eingefleischte Nazis-Schriftsteller wie Will Vesper. Im Zusammenhang mit dieser Figur spinnt der Film (nach einer etwas ermüdenden Aufzählung weiterer Autorinnen und Autoren) den Bogen über Vespers Sohn Bernward Vesper und dessen langjähriger Partnerin Gudrun Ensslin bis zur RAF (Rote Armee Fraktion). Bernward Vespers Ich-Suche Die Reise ist übrigens eines der wertvollsten literarischen Fragmente in der Thematik.
    Als Filmerlebnis bleibt der Dokumentarfilm weit hinter Grafs Spielfilm Fabian oder Der Gang vor die Hunde (zu Erich Kästners Roman) zurück. Fast drei Stunden lang nicht wirklich aufgearbeitete Geschichte, sind eben schwere Kost bei einer bildhaften Gestaltung, die sich ein ums andere Mal wiederholt. Humorvoll und passend an diesem „Bücherwelten“-Filmabend des Südtiroler Kulturinstituts waren hingegen die kurz in den Dokumentarfilm eingebauten "Institut-Sager" aus der 2021 sehr gelungenen Fabian-Verfilmung, bei dem Kästers Fabian verhalten „Ich muss ins Institut“ sagt und seine Angebetete erschrocken entgegnet: „Institut? Das klingt irgendwie nach Hilfe.“ 

  • Bei solchen feinen Dialogen musste man gestern ob der tragischen Geschichte kurz schmunzeln. Das aber vergeht spurlos, wenn am Tag darauf die Radionachrichten melden, wie weit nach rechts Europa bei den kommenden EU-Wahlen rücken könnte, oder wenn – ebenfalls heute – die Titelseite einer Tageszeitung feststellt, dass der Faschistengruß in Italien eigentlich gar nicht verboten ist. 
    Grafs Film ist kein Meisterwerk, aber er ist aktueller als man glauben möchte.

  • Heute bei den Bücherwelten:

    Zwei Literaturgeschichten im Gespräch

    Ein Land der Konflikte und des Miteinanders, ein dunkler Winkel wilder Leidenschaften, ein Grenzstreifen voller Faszination und Widersprüche: Südtirol in deutsch- und italienischsprachiger Literatur. Ein reiches Repertoire an Autor*innen, Erzählungen, Zeugnissen und Beschreibungen einer vielfältigen Landschaft, der dort lebenden Menschen, ihrer eigentümlichen „Verwurzelung“ und Zugehörigkeit.
    Zwei Neuerscheinungen, die unterschiedliche Sichtweisen anbieten, um die Vergangenheit und die Gegenwart eines Grenzgebiets zu erlesen: „Heimat an der Grenze: Streifzüge durch die Literatur aus Südtirol seit den 1960er Jahren“ und „Scorci di confine. L’Alto Adige in un secolo di letteratura italiana“.

    Do 25.01.2024, 18 Uhr