Die Anomalie des politischen Systems Südtirol kann Kompatscher nicht ändern
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Mit Arno Kompatscher - dem neuen "Luis" in Südtirol - sind viele Hoffnung verknüpft. Noch bevor der 42-jährige Völser sein Amt als neuer Landeshauptmann angetreten hat, gibt es zahlreiche Enttäuschte. Ist das seine Schuld?
Nein, Kompatscher hat klare politische Ansagen bisher tunlichst vermieden. Damit vergrößerte er den Spielraum für Projektionen auf ein junges unverbrauchtes freundliches Gesicht. "Erneuerung" ist das bereits abgelutschte Schlagwort für das er steht und mit dem jeder was anderes verbinden zu sein scheint: Eine Abkehr von dem "System Durnwalder", ein klientelistisches System, vom Politologe Günther Pallaver auch als "Bittsteller-Demokratie" bezeichnet. Seilschaften eindämmen und mehr Demokratie fördern, das will Kompatscher, so zumindest seine Ankündigung. Das bleibt auch zu hoffen, aber in jedem Fall muss allen bewusst sein, dass die Anomalie des politischen Systems Südtirol auch unter Arno Kompatscher weiter bestehen bleiben wird.
Südtirol wird ein Land bleiben, in dem eine Partei über 60 Jahre lang absolut regierte, und dies dank des Proporzes, der bereits bisher eine Regierungsbeteiligung der italienischen Sprachgruppe vorschrieb, defacto weiterhin genauso tun wird. Dass eine Partei jahrzehntelange an der Macht ist, kann einer Demokratie nicht gut tun, das ist klar. Das fördert die besagten Seilschaften, Filz und Postenschacher.
Kompatscher ist aber nicht der deus ex machina, der dies ändern wird, sondern kommt genau aus diesem System. Er handelt folgerichtig im Interesse seiner Partei sowie deren Machterhalt, während er ankündigt die zwangsläufigen Folgen deren Langzeit-Alleinherrschaft bekämpfen zu wollen.
Die zweite Anomalie im politischen System Südtirol ist die ethische Trennlinie im Parteiensystem - in erster Linie vertreten durch die Sammelpartei der deutsch- und ladinischsprachigen Minderheit. Gemeinsam gegen Rom und "die Italiener" gilt der Partei auch im 21. Jahrhundert als bewährte Überlebensgarantie und Machterhaltungsstrategie, wodurch man sich dem gesamteuropäischen Trend des Zerbröseln der alten Volksparteien zu widersetzen sucht. Ideologische Debatten werden lieber innerhalb der SVP ausgetragen, als über Parteigrenzen hinweg.
Dass die italienischsprachige Minderheit bzw. all jene, die sich weder der einen noch der anderen Sprachgruppe eindeutig zuordnen wollen, durch diese beiden Anomalien seit Jahrzehnten von der Macht ausgeschlossen bleiben, scheint Kompatscher nicht zu stören. Warum auch? Er ist ja teil der Einheitspartei und wird in deren Interesse auch die ethnische Karte im richtigen Moment zu spielen wissen. Spannend bleibt was Kompatschers Taten bei bisher tunlichst vermiedenen Reizthemen wir ethnischer Proporz oder dem Schulsystem sein werden. Aber auch hier sind große Hoffnungen wohl leider fehl am Platz...
Dass Kompatscher bis jetzt als
Projektionsfläche fungierte und dass Entäuschungen vorprogrammiert sind ist für mich gut nachvollziehbar, aber dass es bereits jetzt schon entäuschte gibt, wäre für mich noch weiter zu erörtern.
Die Frage ist auch welchen Spielraum Kompatscher wirklich zur Verfügung steht und in wie weit er diesen auch ausnutzen will. Wie er sich wirklich verhalten wird kann man zu diesem Zeitpunkt nicht voraussagen. Wie er es schaffen wird sich als Landeshauptmann vor allem gegenüber die inneren Opposition und dem stärksten Medienhaus des Landes zu behaupten wird auch eine Rolle spielen. Zumindest ist es ein gutes Zeichen, dass sich in seiner Rige keine Verbandsvertreter befinden. Ich sehe zumindest die Aussichten nicht so schlecht, dass sich der Klientelismus und die Bittstellerdemokratie zurückentwicklen wird, so wie es der Artikel andeutet. Würde mich aber freuen wenn der Autor seine Gedanken weiter vertiefen möchte.
ursache und wirkung
liebe milena,
meiner meinung nach übersiehst du in deiner analyse, dass die beiden anomalien, die du aufzeigst, in einem kausalzusammenhang stehen und somit nicht zwei anomalien sind, sondern wirkung ein und derselben ursache. d.h. es ist - ähnlich wie in der medizin - sinnlos, immer nur symptome zu bekämpfen. man muss an der ursache die hebel ansetzen.
die autonomie ist eine gute antwort auf ein falsches system. anstatt immer wieder die antwort auf einen fehler zu verändern, sollten wir doch lieber daran denken, die fehlerursache zu beheben.
die anatomie folgt einer nationalistischen logik, weil südtirol teil eines staates ist, der sich national definiert. südtirol ist deshalb autonom, weil wir in einem nationalen sinne "anders" sind. nationale mehrheiten und minderheiten gibt es jedoch nur, weil wir diesem merkmal eine übergeordnete bedeutung beimessen (was schwachsinn ist). genausogut könnten wir von der minderheit der linkshänder oder blondinen sprechen. doch niemand kommt auf die idee, ein gemeinwesen aufgrund dieser merkmale zu definieren und andersartigen (rechtshändern, brünetten usw.) einen "minderheitenschutz" zu gewähren.
folglich ist das grundübel südtirols zugehörigkeit zu einem nationalstaat. innerhalb eines nationalstaates lassen sich die von dir beschriebenen anomalien nicht auflösen. also entweder bringen wir italien dazu, sich als willensgemeinschaft zu verstehen (was mir angesichts des widerstandes beispielsweise gegen das ius soli recht schwierig erscheint) oder wir schaffen ein unabhängiges südtirol, das sich nicht national definiert, sondern eben eine territoriale willensgemeinschaft mit mehrsprachigem quellcode ist. dann gibt es keine "ethnischen" mehr- und minderheiten mehr. diese merkmale bliebe zwar bestehen (wie z.b. bei der religion), nur würde der staat dieses merkmal nicht als unterscheidungsmerkmal heranziehen. (wie bei der religion rückten sie in die privatsphäre)
dadurch lösten sich beide von dir beschriebenen anomalien auf. es bestünde kein grund mehr "ethnischen zusammenhalt" zu fordern. die südtirolerinnen und südtiroler könnten endlich "ideologisch" und nicht "ethnisch" wählen. so wie z.b. bei unseren nachbarn im bundesland tirol. und der einzige unterschied, der mir einfällt, warum nord- und osttirol ein gesunde, ideologisch gefärbte parteienlandschaft haben und südtirol nicht, ist eben der, dass eine vielfältige gesellschaft teil eines einfältigen nationalstaates ist.