Books | Salto Afternoon

Utopische Versuche

Was hat Reiseliteratur mit dem 1. April zu tun? Über den Anschein eines Südtirol-Heftes, das sich als Blender entpuppt. Und über ein mattes (?) Reisebuch, das strahlt!
Titel
Foto: Falter Verlag

Dem heutigen Datum folgend überkam mich die nicht abwendbare Lust auf Scherze. Ich klingelte bei einem meiner Nachbarn, wünschte: "Guten Morgen!und begann mein schelmisches Anliegen freundlich vorzutragen: "Schönes MERIAN Südtirol Heft, welches Sie da bestellt haben, hängt aus Ihrem Briefkasten. Wo soll's denn auch hingehen außer hier herum? In diesen Zeiten…"  Mit der Bitte, das Heftchen bei Gelegenheit auch einmal ausleihen zu dürfen, verschwand ich im Dunkel des Treppenhauses. Über eine Luke, mit den Briefkästen im Erdgschoss im Blickfeld, bemerkte ich wenig später die Enttäuschung meines Nachbarn. Sie war größer als gedacht. Was hatte er erwartet? Ein gutes Reiseheft? 


Mit dem Sager „April, April“ löste ich den Fall und nutzte die Gelegenheit, auf ein Reisebuch hinzuweisen, welches ich und mein Briefkasten jede Minute erwarten würden. Utopie?
Als Beweis zeigte ich meinem April-April-Opfer das Cover als PDF am Mobiltelefon und begann utopisch zu erzählen, von Dingen die mich sicher bald in Buchform heimsuchen würden... 


"Der Autor der Neuerscheinung Hotel Paradiso ist die feine Kulturfeder zu Wien, Matthias Dusini!" erzählte ich. "Er serviert 13 Reiseorte in Mitteleuropa, die allesamt mit der Bahn erreicht werden können. Los geht es mit Reiseort 1 Torviscosa, einer in den 1930er-Jahren realisierten Traumstadt des Unternehmers Franco Marinotti. Sie liegt in den Sümpfen hinter dem Badeort Grado.
Wie in Bruce Chatwins Patagonien oder in Egon Erwin Kisch-Reportagen offenbart sich der Autor von der ersten Zeile an, als angenehmer Erzähler und als ein mit reichem Kulturwissen bestückter Reisepartner, der – freilich weniger angriffslustig wie in manchem Falter-Kommentar (schließlich ist das ja ein Reisebuch) – meilenweit vom unlesbaren Hochglanz-Schleim meines Aprilscherzes entfernt ist.

Matthias Dusini beschreibt neben Hochleistungen auch tiefe Abgründe seiner utopischen Ortswahl.

Vom Sumpf (politisch wie geografisch) geht es in Kapitel 2 in die Ostschweiz nach Susch. Dort hat die polnische Milliardärin Grażyna Kulczyk ein Kunstmuseum eröffnet und ihren persönlichen Traum verwirklicht, weitab vom Rummel der Großstädte. Ein utopischer Ort? Der Autor wärmt nie alten Brei auf, sondern schließt lieber Lücke um Lücke. Sein Buch ist sozusagen ein Lückenschließer.
Das titelgebende Hotel Paradiso – nur ein paar Berge und Täler hinter Susch – steht nicht nur einsam im hintersten Südtiroler Martelltal, sondern vor allem groß am Buchcover. Darüber geschrieben hat Dusini allerdings wenig bis gar nichts. Ein Clou? Lediglich im Vorwort (und in einer kurzen Passage eines nachfolgenden Kapitels) widmet sich der Autor dem baufälligen Kasten aus den 1930er Jahren, der für ihn und die Leser und Leserinnen symbolisch für 13 historische Lücken und die verdächtig unglückliche Zahl 13 stehen soll, sowie das verbannte Zimmer Nr. 13 in manchen Hotels. Ich zitiere: Das verdrängte Zimmer verweist auf die Schattenseiten, die utopischen Projekte oft an- haften und verschwiegen werden schreibt Matthias Dusini und erörtert neben Hochleistungen auch tiefe Abgründe seiner utopischen Ortswahl. Etwa einen Besuch in der von Künstler Otto Muehl 1972 gegründeten Kommune Friedrichshof, die als gesellschaftliches Experiment begann und mit sexuellem Missbrauch endete. Neben Befreiung, Kunst und Gemeinschaftseigentum wird hier auch das große Scheitern beschrieben.
Oder anhand eines Beherbergungsbetriebes mit brauner Vergangenheit in Südtirol, wo ein schmuckes architektonisches Häuser- und Familienensemble, mit kleinen und größeren im Wald verstreuten Villen, im Pensionsgebäude Briol gipfelt, entworfen von einem gewissen Hubert Lanzinger, der auch als Urheber eines bekannten Hitler-Porträts in die Geschichte eingegangen ist.
Kann man dem Zauber eines utopischen Wohlfühlortes verfallen, dessen Erbauer blind und farbenfroh dem Führer folgte? Mann kann! Und Dusini legt offen warum: Nach mehreren Tagen an diesem außergewöhnlichen Ort habe ich meinen Frieden mit Lanzinger geschlossen. Ein ideologisch verrannter Künstler schuf einen Ort, der die Menschen besänftigt.

 

Es sind eben nicht immer aalglatte Schönwetter-Gechichten, die der Falter-Journalist auf seinen Routen aufgelesen hat. Eine skurrile Geschichte entführt sogar ins legndärste Start-up für Weltverbesserung, auf den Monte Verità ins Tessin. Dazu erzählte mir einmal Harald SzeemannAn der Geschichte des Monte Verità fasziniert einfach, dass sie die Geschichte der Utopien beinhaltet, zunächst lebten dort Anarchisten, Künstler, Theosophen etc.. Irgendwann wird das Ganze kapitalistisch und es werden immer mehr reiche Leute angezogen – die auch dort leben wollen. Schließlich kommen noch die Architekten und sorgen für eine neue Besiedelung. Der Ablauf ist immer der gleiche, ob das Taormina, Capri oder Santa Fe ist. Es entstehen Touristenorte.“ 


Mit dem Szeemann-Leitsatz Zuerst kommen die Spinner, dann die Bankiers lädt Matthias Dusini zur Hotel Paradiso-Lektüre. In seinem Buch geht es dahin, wie auf einem abwechslungsreichen Wanderweg, mal steil bergauf, mal eben, mal abgrundtief. Nie langweilig, wie etwa auf einer immer gleichen MERIAN-Asphaltstraße. Zum Glück utopisch! Lieber Nachbar!"