Culture | Salto Weekend

Das Haus meiner Mutter

Im Rahmen der Meraner Literaturaktion „Stille Post | Ad alta voce” serviert salto.bz mehrere Textauszüge. Den Anfang macht die Autorin Anne Marie Pircher
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Foto: edizionialphabeta.it

Sie war eines Tages einfach da. Mit seltsam grauen Augen. Sie würde bleiben, ein Jahr oder zwei, hieß es. Irgendwo war Krieg. Irgendwo gab es ein Elend, von dem wir keine Ahnung hatten. Über dem Eingang zum Haus stand „Villa Burgund" in einer roten Bordüre. Die große Rosskastanie auf dem Platz davor trug ihre grü­nen, stacheligen Früchte. Sie ging in den oberen Stock und suchte sich ein Zimmer. Es war Platz genug. Der altmodische, braune Koffer stand noch unten im Flur, als wollte sie erst vorausgehen und sich vergewissern. Ich lag in jener Nacht in meinem Bett wach und lauschte in die hohe Zimmerdecke hinein. Von drüben klang die Musik der italienischen Streitkräfte durchs Fenster im Parterre. Wie jeden Freitag wurde bis spät in den Abend hinein getanzt und gelacht.

Pierpaolo war schon weg, er verließ mich damals immer vor Mitternacht, diesmal aber schon weit früher, weil er am nächsten Tag eine Prüfung hatte und noch lernen wollte. Er gab mir in jenen Tagen die Gewissheit, nicht allein zu sein in diesem leeren Haus. Zum Keller hin gab es keine Tür, sondern nur ein schmiedeeisernes Gitter. Dahinter führte die Treppe in eine unheimlich anmutende Dunkelheit hinab, die mich Tag und Nacht ängstigte. Dennoch bestand ich darauf, hier zu wohnen. Ich dachte, dass mein Leben besser sein würde in der Stadt. Vor allem aber wollte ich mit Pierpaolo zusam­men sein, diesem großen Jungen mit schwarzgelocktem Haar und einer kühnen Stirn. Wir hatten in der Burgta­verne in den unteren Berglauben zusammen getanzt und uns bald darauf zum ersten Mal lange und leiden­schaftlich geküsst. Die Wärme und Schönheit seiner Hände hielt ich für ein Wunder, das mich aus einer etwas rauen und bedrückenden Welt in eine sanftere führen sollte. Wir waren hinaufgefahren nach Labers an den Waldrand, wo wir uns ins Gras legten und nicht mehr voneinander lassen konnten. Danach weinte ich, ohne dass ich hätte sagen können, warum. Meine Spra­che war eine andere, und in seiner Sprache war ich un­endlich hilflos. Aber das war es nicht, es war etwas anderes. Und ich hatte weder in meiner noch in seiner Sprache Worte dafür.

Sie würde ein Jahr bleiben, oder zwei. Ich lauschte in die Nacht hinein und wunderte mich, dass es im oberen Stock so ruhig blieb. Keine Schritte, kein Öffnen einer Tür oder eines Schranks, nichts. Sie schlief also vielleicht bereits, während ich hier unten wach lag und dem Feiern des Militärs zuhörte. Was machten sie dort eigentlich? Urlaub mit ihren Frauen und Kindern? Mit ihren Gelieb­ten? Ich stand auf, öffnete das Fenster und zündete mir eine von Pierpaolos Zigaretten an. Die Luft war rein und frisch, noch nie hatte ich hier am offenen Fenster gestan­den, so ersichtlich für die anderen drüben im Soggiorno Montano. Noch nie war ich einem von denen direkt be­gegnet, und doch mussten sie wissen, dass hier jemand eingezogen war, so nah an ihrer Grenze. Nachts hörte ich oft die Schritte auf den Porphyrplatten vor meinem Fens­ter, wenn sie in die Appartements der Depandance zu­rückkehrten. Oft schrak ich dann im Halbschlaf noch einmal auf und dachte, jemand sei in meinem Zimmer. Aber ich hatte nie schlaflose Nächte, auch keine Alp­träume. Ich fühlte mich durch die nahe Anwesenheit der

Streitkräfte irgendwie sicher. Einmal schrillte mitten in der Nacht draußen auf dem Tischchen im Flur das graue Telefon lange und eindringlich. Zuerst hörte ich es in meinem Traum, der immer weiter in die Ferne rückte, bis ich schließlich in der Realität in meinem Bett er­wachte und vor Angst zu zittern begann. Ich war außer­stande, mich zu bewegen, geschweige die Tür aufzuschließen und draußen im Flur den Hörer abzu­nehmen. So hallte es noch eine gute Weile in die Dun­kelheit hinein, bevor es wieder still wurde und ich jedes noch so bedeutungslose Geräusch mit meinen über­spannten Nerven zu deuten begann. Ich hatte damals die Vorstellung, jemand wollte mich aus meinem Zimmer locken, um mich zu töten. Wie ich auf diesen Gedanken kam, wusste ich nicht, aber er war eindeutig da. Ich dachte, dass man vielleicht zuerst sterben müsste, um in die Freiheit zu gelangen. Eine Freiheit, die mich nachts von meinem Zimmer entbinden würde, mich unbeirrt durch alle Räume gehen ließe. Dieser Gedanke sollte sich noch lange in mir festhaken, denn auch später habe ich immer wieder in Zimmern dem Tod entgegengesehen.

...

Die 17-jährige Ich-Erzählerin lebt im Jahr 1981 vorerst allein in einem alten, großen Haus gegenüber dem Soggiorno Montano des italienischen Heers in Meran. Eine Großtante, die vor den politischen Unruhen in Rhodesien flüchten muss, findet vorübergehend Unterschlupf bei ihr. Auch Eva, eine Schulfreundin, die aus dem Heim geflogen war, zieht in der Villa ein. Mit Pierpaolo, dem italienischen Jungen, entwickelt sich eine zarte, aber unsichere Liebe. Der Text erzählt in einprägsamen Bildern die Zeit der Verunsicherung eines Mädchens, das nur noch wenig Lust auf Schule hat und ziellos in der Stadt herumstreunt. Erst die Annäherung an die Literatur und an die alte fremde Frau mit ihrem Schachspiel (vor dem Hintergrund der Schachweltmeisterschaft in Meran) weisen in eine neue Richtung, in ein vages Exil anhand des Schreibens.

Salto in Zusammenarbeit mit:
Edizioni alphabeta Verlag