Culture | Salto Weekend

UN - OFFICIAL STORIES

In der Galleria Doris Ghetta in Pontives ist zeitgenössische Kunst zu Medien und Geschichtsschreibung zu sehen. Ein Gastbeitrag der Kuratorin Sabine Gamper.
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Foto: Lida Abdul

Die Gruppenausstellung „UN - OFFICIAL STORIES“ präsentiert die Werke von sieben Künstlern  und Künstlerinnen, die mit ihrem kritischen Geist einen je individuellen Blick auf aktuelle Fragestellungen unserer Gesellschaft werfen. Mit großer allegorischer und transformatorischer Kraft erzählen die präsentierten Werke von unseren Beziehungen zu anderen Kulturen, hinterfragen historische Wahrheiten und geschichtliche Konstrukte, und arbeiten mit einer individuellen Erinnerung als herausragender Möglichkeit geschichtlicher Aufarbeitung.

Der künstlerisch strategische Ansatz der einzelnen Positionen ergibt sich aus den unterschiedlichen kulturellen, persönlichen und medialen Blickwinkeln.

Wie es der Titel der Ausstellung bereits andeutet, fällt die Aufmerksamkeit der Künstler dabei nicht auf die über Medien und Geschichtsschreibung offiziell verkündeten Wahrheiten,  sondern vielmehr auf jene unbekannten, unveröffentlichten oder verdrängten Geschichten, die oft die andere Seite der Medaille darstellen. Gerade der Kunst fällt in diesem Sinne eine herausragende Rolle zu, nämlich Realität und ihre Wahrnehmung auf eine Weise zu thematisieren, sodass die Vielschichtigkeit von „Welt“ nicht aufgelöst, sondern erfahrbar gemacht wird. Denn das vermeintlich Definitive des Realen kann durch das sinnliche Angebot des Kunstwerkes eine Umdeutung erfahren, indem der Künstler seine Ideen auf eine Weise formuliert, dass Irritation und Erinnerung entsteht, und Realität in Poesie verwandelt wird.
Medial arbeiten die eingeladenen Künstler und Künstlerinnen vorwiegend im Bereich des Bildhauerischen, von der Skulptur und der Objektkunst über die Installation bis hin zu performativ- objekthaften Zugängen in der Videokunst. Der künstlerisch strategische Ansatz der einzelnen Positionen ergibt sich aus den unterschiedlichen kulturellen, persönlichen und medialen Blickwinkeln.
Dabei soll der Betrachter als Beteiligter an der Entschlüsselung der Werke involviert werden, indem er aufgefordert wird, seinen eigenen Betrachterstandort einzunehmen. In diesem Sinne soll diese Ausstellung zu einem Erfahrungsraum werden, in dem verschiedene Möglichkeiten der Betrachtung und der Erkenntnis  von „Welt“ angeboten werden.

Die afghanische Filmemacherin Lida Abdul (Kabul, 1973) präsentiert ihren 2008 in Afghanistan entstandenen Videofilm „In Transit“ (2008), in welchem sie eine Gruppe von afghanischen Kindern zeigt, die versuchen, ein zerschossenes russisches Flugzeug wieder zum Fliegen zu bringen. Mit großer Hingabe füllen die Kinder die Löcher des Flugzeugs mit Baumwollbüscheln, und versuchen dieses dann mithilfe von befestigten Seilen wie einen Drachen wieder in die Lüfte zu befördern. Das unvoreingenommene und  in höchstem Maße transformatorische Spiel der Kinder steht hier in krassem Gegensatz zur zerstörerischen Kraft des Krieges, und vermittelt in poetischen Bildern die unverwüstliche und stets sich erneuernde Kraft der Hoffnung für eine bessere Zukunft. 

Die Fragilität des menschlichen Körpers und seine Verletzlichkeit wird in dem Skulpturenensemble „L’attimo fuggente“ von Aron Demetz (Wolkenstein, 1972) deutlich, eine Arbeit, welche als Teil einer Serie von Brandarbeiten 2010 entstanden ist. Der Künstler arbeitete hier mit der gleichzeitig zerstörerischen wie modellierenden Kraft des Feuers an der vorher in traditioneller Holzschnitttechnik gefertigten Skulptur, und überlässt somit den Entstehungsprozess seiner Arbeit einer unberechenbaren Kraft. Durch ihre formale Nähe mit den verkohlten Leichen im altertümlichen Pompei, und durch ihre aktuelle Einbindung in Ereignisse von Krieg, Not und Zerstörung erlangt diese Arbeit eine übergeordnete Kraft als Abbild menschlichen Leids.

Martin Gostner (Innsbruck, 1957) fokussiert in seinem Werk die Spuren, welche geschichtliche Ereignisse in der Welt hinterlassen haben. Das Material Watte sowie grafische Symbole dienen als Ausdrucksmittel, um verschüttete persönliche und kollektive Erinnerungen zu reaktivieren. In der Ausstellung präsentiert er eine 9-teilige Serie von Wattearbeiten in Plexiglaswürfeln mit dem Titel „Ennui - Retter, spiele, Retter“ (2016), sowie eine für die Ausstellung entstandene Arbeit mit dem Titel „Sem And Ham Dormant“ (2017). „Ennui“ verweist auf das in unserer Gesellschaft verbreitete Phänomen von Langeweile und Leere, welches scheinbar nur durch eine intensive Suche nach Unterhaltung und Ablenkung kompensiert werden kann. Die Arbeit „Sem And Ham Dormant“ bezieht sich hingegen auf die biblische Geschichte der beiden Söhne von Noah als Gründungsväter der Semiten und Hamiten, heute Israelis und Araber, und zeichnet Armeebewegungen aus verschiedenen Palästina-Kriegen nach. Sie repräsentiert die ideologische Fortschreibung einer biblischen Geschichte in einer Vielzahl von ethnischen Konflikten bis heute.

Der Künstler Petrit Halilaj (Kosovo, 1986) erlebte als Kind den Krieg in seiner Heimat Kosovo, und als Jugendlicher die Erfahrung der Migration. Es sind seine ganz persönlichen Erinnerungsbilder, welche der Künstler heute in seine Werke hineinformuliert. In dieser Ausstellung präsentiert er die Arbeit „PH/I 248, Untitled (Objects) 2009, ein Objektensemble aus Rohren, Holz, Neonlampen und verschiedenen Objekten, bruchstückhafte Erinnerungsmomente aus seinem früheren Leben im Kosovo. Weiters ist die dazugehörige Videoarbeitn aus „They are Lucky to be Bourgeois Hens II“, Kosovo, 2009 zu sehen, die Dokumentation zu einer Holzkonstruktion in Form eines Space Shuttles, die Halilaj für seinen Hühnerstall im Garten des Hauses seiner Eltern im Kosovo baute. Für den Künstler ist die Vergangenheit kein unerreichbares Konstrukt, sondern er holt diese in Form von surrealen aber zugleich poetischen Interventionen und Materialensembles in die Gegenwart.

Riccardo Previdi (Mailand, 1974) präsentiert in der Ausstellung eine Neuauflage seiner Arbeit „OPEN“ (2017), eine großformatige Leuchtschrift, welche den Besucher direkt am Eingang des Ausstellungsraumes empfängt, und die eigens für diese Ausstellung neu konzipiert wurde. Die Arbeit bezieht sich auf die vielen Schilder mit der Aufschrift OPEN, welche man weltweit am Eingang von Verkaufsläden, Bars etc. vorfindet, und welche die Öffnung und Betriebsamkeit des Ortes anzeigen. Als zeitgenössisches „Schlüsselwort“ einer globalisierten Gesellschaft entwirft der Künstler dieses „ready-made“ in Großformat, um den globalen Austausch von Waren, Botschaften, Angeboten, Arbeitskraft, Materialien, etc. zu signalisieren. Gleichzeitig spricht OPEN auch eine Einladung aus, und stellt die eindringliche Frage nach der tatsächlichen Bereitschaft zur Öffnung angesichts globaler Migrationsbewegungen.

Fernando Sánchez Castillo (Madrid, 1970) hat eigens für diese Ausstellung eine neue Arbeit realisiert, „Hidden Liberty, D ́après Laboulaye and Bartholdi“ (2017), eine in Holz gearbeitete Plastik der amerikanischen Freiheitsstatue als dunkelhäutiger Frau. Sanchez untersucht in seinen Arbeiten, wie kulturelle Erinnerung entsteht, und wie sich politische Macht über offizielle Erzählungen und Bilder konstituiert. Eine zentrale Auseinandersetzung in seiner Arbeit geschieht über die Dekonstruktion von Denkmälern, welche er als Instrumente der Macht und Repräsentation in Frage stellt. Als über ragendes Symbol der Freiheit, Unabhängigkeit und ursprünglich auch des Endes der Sklaverei ist die Freiheitsstatue mittlerweile zum Wahrzeichen für den „American way of life“ geworden. Als dunkelhäutige Liberty erhält sie im heutigen Kontext eines Amerika von Donald Trump eine vielschichtige Bedeutung sowie eine Rückbindung an ihre Historie.

Das Künstlerkollektiv Slavs and Tatars (2006) präsentiert zwei Arbeiten aus der Serie „Reverse Dschihad“ (2015), zwei großformatige verspiegelte Schrifttafeln, welche die Geschichte einer besonderen politischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Kaiser Wilhelm II mit dem ottomanischen Sultan am Beginn des 20.Jahrhunderts aufgreifen. Der Kaiser forcierte den ersten Dschihad und ließ in diesem Zusammenhang 1915 in Berlin für circa 30.000 muslimische Kriegsgefangene in einem Lager in Deutschland die Propaganda Zeitschrift "El Dschihad“ verteilen, die in verschiedenen Sprachen des Nahen Ostens  erschien. Wie Archäologen recherchieren Slavs and Tatars in oft literarischen historischen Quellen, und tauchen mit ihren humorvollen aber immer tiefgründigen und sehr fundierten Arbeiten in tiefere Bedeutungsschichten von Religion, Macht, Sprache und Identität ein.