Society | Missbrauch

„So etwas tut ein Priester nicht!“

Auch heute noch herrscht über Missbrauch in der Kirche tiefstes Schweigen. Gottfried Ugolini berichtet über die ersten Schritte der Aufarbeitung.
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Foto: Diözese Bozen Brixen
Der Missbrauch an Minderjährigen gehört zu jenen Themen, über das man sich auch heute noch – selbst in unserer aufgeklärten Gesellschaft – in tiefstes Schweigen hüllt. Erst recht gilt dies für die katholische Kirche. Ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit drang dieses Thema im deutschsprachigen Raum durch die Aufdeckung der Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg in Berlin im Jahre 2010. In der Folge wurden weitere Missbrauchsfälle bekannt, wie jene in der Odenwaldschule, der angesehenste Eliteschule im deutschsprachigen Raum. Bereits in den 90er Jahren wurde der Schulleitung mitgeteilt, dass es zu Übergriffen gekommen war, was allerdings im Rahmen der vorherrschenden Ideologie vollständig ausgeblendet wurde.
 
 
 
Wie Gottfried Ugolini, Leiter der diözesanen Fachstelle für die Prävention und den Schutz von Minderjährigen vor sexuellem Missbrauch, im Gespräch mit Salto.bz erklärt, sei es nach den Medienberichten in Deutschland absehbar gewesen, dass die Diskussion darüber auch nach Südtirol schwappen würde und es an der Zeit sei, die begangenen Missbrauchsfälle aufzuarbeiten. Die Diözese Bozen-Brixen bemüht sich seit längerer Zeit um eine Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der Kirche. Bereits 2010 hat die Diözese eine Ombudsstelle mit einer von der Diözese unabhängigen Person eingerichtet, an die sich Personen wenden können, die einen Missbrauch durch Priester und Ordensleute erlitten haben. Im Jänner 2018 wurde Maria Sparber zur unabhängigen Ombudsfrau ernannt. Im selben Jahr hat die Diözese Bozen-Brixen neue Richtlinien zum Schutz Minderjähriger vor sexuellem Missbrauch erlassen. Zum Leiter der neuen Fachstelle wurde der Priester und Psychologe Gottfried Ugolini ernannt. Ihm steht ein Fachbeirat zur Seite.
 
Wir werden analysieren, was vorgefallen ist, wo noch einmal nachgefragt werden muss und was man daraus für die Zukunft lernen kann.
 
Dieses Gremium ist auch mit nicht-kirchlichen Experten besetzt. Seit längerer Zeit steht Ugolini in einem regen Austausch mit Hans Zollner. Der Jesuit und Experte in Sachen Missbrauch hat Anfang März 2022 für die Verantwortlichen der Diözese, der Ordensgemeinschaften und kirchlichen Organisationen Weiterbildungseminare abgehalten. Im Anschluss daran fand ein Treffen des Fachbeirates mit Generalvikar Eugen Runggaldier und Bischof Ivo Muser statt, um über Anregungen zur Aufarbeitung zu beraten. Daraufhin wurde beschlossen, die Schritte für eine umfassende Aufarbeitung einzuleiten, berichtet Ugolini und betont: „Wir werden analysieren, was vorgefallen ist, wo noch einmal nachgefragt werden muss und was man daraus für die Zukunft lernen kann.“ Im konkreten Fall heißt das, dass, wenn es beispielsweise in einem Heim zu Missbrauchsvorwürfen gekommen ist, der erste Schritt darin besteht, herauszufinden, was man im Heim weiß. Was der Beauftragte für den Schutz von Minderjährigen beschreibt, hört sich dabei nach schwieriger Detektivarbeit an – insbesondere wenn die Fälle bereits Jahrzehnte zurück liegen. Die Fragen dabei lauten: Wie ist man früher mit Missbrauchsfällen umgegangen? Wurden Meldungen ernst genommen oder gleich im Keim erstickt? Welche Maßnahmen wurden ergriffen? Haben sie etwas genutzt oder auch nicht? „In den Gesprächen wollen wir einen Einblick in die Dynamiken, die am Werk waren, gewinnen. Daraus lassen sich Rückschlüsse über das Umfeld ziehen, das solche Fälle entweder begünstigt oder verhindert hat – und natürlich auch über den Täter selbst“, ist Ugolini überzeugt.
 
 
 
 
 

Stimmen des Anstoßes

 
Die Aufarbeitung ins Rollen gebracht haben vor allem die Stimmen der Betroffenen: jene, die den Mut hatten, darüber zu sprechen, jene, die sehen wollten, dass sich in der Kirche etwas verändert. „Die Betroffenen, mit denen ich Kontakt hatte, wollen, dass ihnen geglaubt wird und dass etwas passiert“, betont Ugolini und erklärt, dass in den Gesprächen immer auch die Sorge im Allgemeinen und der eigenen Zukunft mitschwingt. Sich in der Fachstelle mit dem Thema Missbrauch auseinanderzusetzen, ist eine sehr große Herausforderung. Zugute kommt dem ausgebildeten Psychologen dabei, dass er professionell damit umgehen kann. „Ich habe das große Glück, dass ich auf Personen zurückgreifen kann, die mich unterstützen“, erklärt der Leiter der Fachstelle, der sich mit schrecklichen und erschreckenden Situationen auseinandersetzen muss. Das Thema an sich hat bereits etwas Abschreckendes.
 
Die gesunde menschliche Reaktion auf sexuellen Missbrauch ist Abwehr und Ekel.
 
Die gesunde menschliche Reaktion auf sexuellen Missbrauch ist Abwehr und Ekel. „Das ist mit ein Grund, weshalb es uns so schwer fällt, das Thema gesellschaftlich zur Sprache zu bringen“, erklärt der Theologe. Ein gesunder Erwachsener will keine sexuelle Beziehung mit einem Kind. Die Tatsache, dass die Grenzen zwischen unangemessenem Verhalten und normaler menschlicher Interaktion nicht immer klar unterscheidbar sind, macht es nicht einfacher. Denn jeder Mensch bewertet Nähe oder die Suche nach Kontakt anders und so lautet auch die Antwort, ab wann und welche Nähe unangemessen ist, anders. Von beiden Seiten aus sind die Grenzen nicht immer leicht zu bestimmen. Es gibt Priester, die auf ein Zeltlager mitgefahren sind, mit den Kindern gespielt haben und sich heute beispielsweise fragen, ob sie beim Ranggeln nicht vielleicht zu weit gegangen sind. „Situationen, die für den einen noch akzeptabel und normal sind, gehen dem anderen vielleicht bereits zu weit. Umgekehrt: Situationen, für die sich der eine bereits schuldig fühlt, sind für das Gegenüber noch im Bereich des Normalen“, schildert Ugolini die komplexe Situation. Die Grenzen zwischen Grau- und Orange-Bereich müssten immer wieder abgesteckt, Nähe und Distanz immer wieder neu geregelt werden. Abseits der Grauzonen gibt es aber Einstellungen und Verhaltensweisen, bei denen die Ampel deutlich auf rot steht wie abschmusen und hemmungsloses Umarmen.
 
 

Heile Welt

 
Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde theologisch, pastoral und spirituell vermittelt, dass der Priester etwas Besonderes ist, diese Vorstellung wirkt bis in die heutige Zeit nach. Wenn der Bub oder das Mädchen nach Hause kam und erzählte, dass im Heim, in der Pfarrei oder in der Schule etwas vorgefallen war, und es sich dabei um einen Priester handelte, dann war das außerhalb jeder Vorstellung, denn es galt: „So etwas tut ein Priester nicht!“ Ein Mann der Kirche, der für das Gute schlechthin steht und ein „Experte“ in Sachen Sünde ist, kann solche bösen Taten nicht begehen. Und selbst wenn die Eltern dem eigenen Kind geglaubt haben, waren sie in ihrer Vorstellung gefangen, dass man nicht gegen einen Priester vorgehen durfte.
 
Unter Umständen hieß es „Er ist auch nur ein Mensch!
 
Unter Umständen hieß es „Er ist auch nur ein Mensch!“ oder im schlimmsten Fall wurde dem Kind vorgeworfen, es habe seinen Peiniger provoziert. Somit spielt nicht nur der Einzelne als Täter eine treibende Rolle, sondern der gesamte „Kontext hilft mit“, erklärt Ugolini. Dieser soziale Kontext schafft den Raum, dass solche Taten passieren könnten. Von einer Mutter wurde ihm berichtet, dass sie ihrer Tochter nicht geglaubt hatte, als diese nach Hause kam und erzählte, dass ein Priester sie dort berührt hatte, wo er sie nicht hätte berühren dürfen. In der Vorstellung der katholisch sozialisierten Mutter passte ein Geistlicher, der unschuldige Kinder missbraucht, einfach nicht hinein. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte!
 
 
 
 
 

Präventivmaßnahmen

 
Um zukünftig Missbrauchsfälle zu vermeiden, ist die Präventionsarbeit von zentraler Bedeutung, unterstreicht der Leiter der diözesanen Fachstelle für Prävention. Dazu gehört, Erwachsene und Jugendliche darüber zu informieren, dass „so etwas“ passieren kann und dass darüber geredet werden soll. Gleichzeitig werden sie aufgefordert, sich zu melden, wenn etwas „Auffälliges“ geschieht. „Ziel muss es zudem sein, eine Kultur der Aufmerksamkeit und der Verantwortung zu schaffen. Es braucht überall Beschwerdestellen, an die sich die Betroffenen wenden können“, betont Ugolini. Die Mitarbeiter dieser Beschwerdestellen sollen ebenfalls informiert und ausgebildet werden sowie ein Verfahrensprotokoll zur Verfügung gestellt bekommen, aus dem sie ablesen können, welche Schritte im Falle eines Missbrauches eingeleitet werden müssen.
 
Aber kaum jemand hat etwas dagegen gesagt oder getan!
 
„Kurz zusammengefasst versuchen wir alle Möglichkeiten auszuschöpfen, damit so etwas nicht mehr passieren kann und sollte es doch zu einem Missbrauchsfall kommen, müssen wir in der Lage sein, kompetent vorzugehen“, erläutert Ugolini die Strategie der Diözese. Kompetent vorgehen heißt in diesem Fall, alle vorgesehen einschließlich rechtlicher Schritte einzuleiten und versuchen, den Betroffenen und dem jeweiligen Umfeld jegliche Form von Unterstützung zu gewähren. Geschieht ein Missbrauchsfall in einer Pfarrgemeinde, dann muss der Fall mit den Mitgliedern in der Pfarrgemeinde aufgearbeitet werden, ist Ugolini überzeugt und berichtet, dass über Missbrauchsfälle, die in einer Pfarrgemeinde passiert sind, meistens sehr viele Personen Bescheid gewusst hätten – „aber kaum jemand hat etwas dagegen gesagt oder getan!“ Ziel sei es, dieses Umfeld des Schweigens zu brechen, die Gesellschaft zu sensibilisieren, aufmerksam hinzusehen und Dinge anzusprechen. „Ansonsten laufen wir Gefahr, dass wir zwar unsere Programme abspielen und Prävention betreiben, aber diese nichts nützen, weil die Geschehnisse wieder in einen Mantel des Schweigens gehüllt werden.“
 

Große Brocken

 
Die Diözese will bereits seit längerer Zeit die notwendigen Maßnahmen für eine Aufarbeitung einleiten. Ein wichtiger Schritt war die Einrichtung einer Arbeitsgruppe, welche mit einer Studie zu Gewalt und Missbrauch sowie mit der der Erstellung eines Präventionskonzeptes beauftragt wurde. Wie der Leiter der Fachstelle erklärte, habe Bischof Ivo Muser entschieden, einen „kurzen Zwischenstopp“ einzulegen, was übrigens zu lautstarker Kritik geführt hat. Der Grund dafür war, dass das Konzept in dieser Form nicht durchgeführt werden könne, schlichtweg weil es zu umfangreich und finanziell zu aufwendig ist. So ein großer Brocken auf einmal geht nicht, meinten einige Verantwortliche und stellten die Sinnhaftigkeit in Frage. Dahinter verbergen sich Ängste und Verunsicherungen. Diese verhindern, sich der Wirklichkeit zu stellen, nämlich: dass es in der Kirche Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt gibt.
 
Jene Personen, die zu Missbrauch tendieren, schlafen ja auch nicht.
 
Studie und Konzept seien auf fünf Jahre ausgelegt gewesen und sahen eine unabhängige und wissenschaftliche Aufarbeitung vor mit dem Ziel, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und eine radikale Veränderung entsprechend den christlichen Werten und den Menschenrechten einzuleiten. Durch die Weiterbildung mit Pater Hans Zollner  ist den Verantwortlichen jedoch klar geworden, dass Aufarbeitung nur in einem langfristigen Prozess gelingen kann. Andernfalls riskiert man, dass so wie in Deutschland – nach den diversen Schulungen und Erarbeitungen von Präventionskonzepten – eine Phase der Müdigkeit  eintritt. „Dann lässt die Aufmerksamkeit wieder nach, wir verlieren wieder die Kontrolle und gefährden wieder. Jene Personen, die zu Missbrauch tendieren, schlafen ja auch nicht“, bringt Ugolini das Problem auf den Punkt.
 

Meister im Manipulieren

 

Bei Missbrauchstätern handelt es sich meistens um große Manipulateure – das Eindringen in die Intim-Spähre des Opfers geschieht nicht zufällig, sondern die Nähe wird bewusst gesucht und auch geschaffen. Bei einer Vertrauensperson gehen die Missbrauchsopfer nicht von schlechten Absichten aus. Geschickt stiftet der Täter Verwirrung, sodass die Opfer zwar merken, dass etwas nicht stimmt, aber zumeist nicht verstehen, was genau passiert. Traut sich der Schutzbefohlene nicht, über das Eindringen in die Intim-Spähre zu sprechen und einen Stopp zu erzwingen, ist das Überschreiten der Grenze bis in den strafrechtlich relevanten Bereich nur mehr wenige Schritte entfernt. Das kann unter Umständen über einen langen Zeitraum hinweg und schleichend passieren.
 
Auf jeden Fall verlangt es dem Täter ein hohes Maß an organisatorischen Fähigkeiten ab.
 
Der Täter pflegt und prüft immer wieder die Beziehung, bis eine Art Bindung entstanden ist. „Die Täter stehen nicht in der Früh auf und nehmen sich vor, sich an ein bestimmtes Kind heranzumachen. Sondern dieser Vorgang passiert in kleinen Schritten unter anderem durch allerlei Aufmerksamkeiten, Geschenke, Privilegien, besondere Fürsorge und Unterstützung. Ständig überwacht er sein ausgewähltes Opfer: Sucht es mich? Folgt es mir?“, schildert Ugolini die Dynamiken. Es geht dabei nicht primär um die erotische und sexuelle Befriedigung, sondern um Machtgelüste. Dieser Prozess kann einher gehen mit Drogen- oder Alkoholmissbrauch, selten mit Gewalt. Gleichzeitig wird das Umfeld, das meistens voll des Lobes über den aufmerksamen Beschützer und Kümmerer ist, eingelullt, bis blindes Vertrauen herrscht. Auf jeden Fall verlangt es dem Täter ein hohes Maß an organisatorischen Fähigkeiten ab.
 
 
 

„Unaufgeräumte Keller“

 
Der Sexualtrieb ist einer der stärksten menschlichen Triebe, die in irgendeiner Form befriedigt werden müssen. Für einen Geistlichen, der eine Lebensform des Verzichts wählt, gehört die sexuelle Enthaltsamkeit zu den größten Herausforderungen. Diese besteht darin, die zölibatäre Lebensform in Einklang mit dem Sexualtrieb zu bringen, damit der Geistliche seinen Mitmenschen mit einer positiven und reifen Haltung  begegnet, ohne sie zu gefährden. „Hier hat die Kirche in der Vergangenheit wohl zu wenig hingesehen“, gibt Ugolini unumwunden zu und erzählt, dass wohl einige Priester während der Ausbildung und im familiären Bereich Hilfe erfahren haben, während andere mit ihren Sorgen und Fragen alleine geblieben sind. Vielfach habe auch die Vorstellung vorgeherrscht, dass mit Beten und mit dem Erhalt der Weihe, der Priester die Gnade erhalte und sich die „Probleme lösen und geben würden“.
 
Tatsache ist jedoch, auch wenn man zum Priester geweiht wurde, ist man genauso aus Fleisch und Blut wie vorher.
 
„Tatsache ist jedoch, auch wenn man zum Priester geweiht wurde, ist man genauso aus Fleisch und Blut wie vorher“, betont Ugolini und erklärt, dass dass es Priester gibt, die keinen natürlichen Umgang mit sich selbst, Frauen und Männern gegenüber hätten. Sie sind, wie es der Leiter der Fachstelle ausdrückt, „mit einem unaufgeräumten Keller Geistlicher geworden“. Wenn der Geistliche die Möglichkeit hatte, durch Freunde, Bekannte, Familie einen „normalen Umgang“ zu erlernen, dann habe seine Sexualität gut integrieren können. Die Sexualität hat sich dadurch nicht zu einer zerstörerischen Kraft entwickelt, sondern ließ sich lenken und steuern. „Wir haben festgestellt, dass viele Priester Kinder und Jugendliche missbraucht haben, nicht weil sie der klinischen Klassifikation eines Pädophilen entsprochen haben, sondern weil sie einfach unreif waren. Sie haben nicht gelernt, mit der eigenen Sexualität und mit Beziehungen in einer gesunden Weise umzugehen und sind in diesen Bereichen teilweise auf der Entwicklungsstufe eines Pubertierenden stehengeblieben“, erläutert Ugolini. Sie mögen dieses Unvermögen eine Zeitlang gut unter Kontrolle halten können, aber sie können sich in bestimmten Situationen und Kontexten auch zu Gefährdern entwickeln, wenn sich die passende Gelegenheit bietet, unabhängig vom Geschlecht und Alter ihrer Opfer, sondern allein durch die Tatsache, dass sie die leichteste Beute für die Täter darstellen
 

Warum Aufarbeitung?

 

„Wir möchten den Opfern eines Missbrauchsfalles Gelegenheit geben, darüber zu sprechen und sie Gerechtigkeit erfahren lassen“, beteuert der Leiter der diözesanen Fachstelle. Das gelte auch für jene Fälle, die bereits Jahrzehnte zurück liegen und wo der Täter entweder bereits verstorben ist oder aus Alters- und Krankheitsgründen nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann. Das ist nicht nur für den Einzelnen wichtig, sondern auch für das ganze soziale Umfeld. Missbrauchsfälle sind Ereignisse, die sich auch in das kollektive Gedächtnis einbrennen. Bei Missbrauchsfällen, die heute geschehen, kann man umgehend reagieren, den Betroffenen und dem Umfeld Hilfe anbieten sowie den Täter aus dem Verkehr ziehen. Im Vergleich zu früheren Zeiten reagiert das Umfeld heute sensibler, sieht eher hin und reagiert auch eher und schneller. „Wir haben heute viel früher die Möglichkeit, hinzuschauen und mit den Betroffenen zu sprechen“, erklärt Ugolini. Steht der Verdacht einer unangemessenen Annäherung im Raum, werden die Täter mit der Anschuldigung konfrontiert. Es geht in einem solchen Gespräch primär darum abzustecken, ob Einsicht vorhanden ist. Der Gefährdungsgrad steigt nämlich mit dem Grad der Uneinsichtigkeit des Täters. Das Gespräch folgt einem erzieherisch pädagogischen Prozess, in welchem sich der Täter bewusst werden soll, dass es Kinder gibt, die sich in seiner Nähe nicht wohl fühlen. Ist Einsicht vorhanden, reagieren die mit dem Vorwurf konfrontierten Personen zum Beispiel mit Erschrecken, es kann durchaus sein, dass ihnen diese Tatsache nicht bewusst war.
 
Schwierig wird es mit Personen, die keinerlei Einsicht zeigen.
 
„Schwierig wird es mit Personen, die keinerlei Einsicht zeigen“, erklärt Ugolini. In so einem Fall werden Überlegungen angestellt, wie diese Person monitoriert werden kann bzw. dass sie nie allein mit Minderjährigen ist. „Gelangen wir bei einem derartigen Gespräch zur Überzeugung, dass überhaupt keine Einsicht vorhanden ist, kann das sowohl im zivil- wie auch kirchenrechtlichen Bereich Folgen nach sich ziehen.“ Die Höchststrafe, die das Kirchenrecht vorsieht, ist der Ausschluss aus dem priesterlichen Dienst. Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang eine gute Zusammenarbeit mit den Behörden bzw. mit der Staatsanwaltschaft. Dadurch sei es vor allem möglich, schnell einzugreifen und die Betroffenen bestmöglich zu schützen. Versetzungen eines Geistlichen, der mit Missbrauchsvorwürfen in Zusammenhang gebracht wurde, wie sie früher üblich waren, können heute nicht mehr passieren, versichert Ugolini. „Wenn es Bedenken gegenüber einem Priester gibt, der z.B. des Missbrauchs beschuldigt wurde, ist es sehr wichtig, den Menschen alle Informationen zur Verfügung zu stellen“, so der Fachstellenleiter. Letztendlich liegt die Entscheidung und die Verantwortung aber beim Bischof, wie und in welcher Form der Geistliche seine Tätigkeit noch ausüben kann.
 
Bei Missbrauchsfällen an Kindern muss überdacht werden, ob so eine Person überhaupt noch im Dienst an den Mitmenschen eingesetzt werden kann.
 
Neben einem festgelegten Begleitprogramm sind unter anderem Gespräche mit einem Psychologen vorgesehen. Auch der Geistliche selbst kann ein Zeichen der der Ehrlichkeit und Verantwortung setzen. Dazu zählen Offenheit gegenüber der Pfarrgemeinde und eine glaubhafte Versicherung, dass keine Gefahr von ihm ausgehe, versehen mit dem Hinweis, dass sich Bürger bei etwaigen Auffälligkeiten jederzeit an die Dienststellen wenden können. „Bei Missbrauchsfällen an Kindern muss überdacht werden, ob so eine Person überhaupt noch im Dienst an den Mitmenschen eingesetzt werden kann“, betont Ugolini. Für Betroffene ist es ein Schlag ins Gesicht, wenn sie jenen Priester, der beschuldigt wurde, Kinder- oder Jugendliche missbraucht zu haben, in der Nachbargemeinde sehen, wie er beispielsweise Kinder zur Erstkommunion begleitet. Sie fühlen sich wieder betrogen und nicht ernst genommen, und im Grund genommen wieder missbraucht.
Wird ein Täter aus dem kirchlichen Dienst ausgeschlossen, muss dafür Sorge getragen werden, dass, wo immer er auch arbeitet, sein Umfeld über seine Vergangenheit informiert wird. „Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand aus dem Dienst ausscheidet, und dann beispielsweise im Sportbereich anfängt, Kindergruppen zu betreuen“, erzählt Ugolini. Hier müssen Kirche und Staat eng zusammenarbeiten – auch müssen therapeutische und rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, welche verhindern, dass Täter weiterhin Gelegenheit bekommen, mit Kindern zu arbeiten und in der Folge sich an ihnen zu vergehen.
 

Erste Schritte

 

„Der Bischof hat sich entschieden, die Aufarbeitung in die Wege zu leiten als langsfristig angelegtes Projekt, dass prozesshaft und partizipativ ausgerichtet ist. Es ist ein Lern- und Veränderungsprozess, deren ersten Schritte im Herbst beginnen sollen“, erläutert Ugolini. Vor rund einem Monat wurde eine Expertengruppe eingerichtet, in der neben seiner Person Generalvikar Eugen Runggaldier, sowie zwei unabhängige Fachleute, die Rechtsanwältin Patrizia Vergnano und der Psychiater Giancarlo Giupponi, vertreten sind. Bei der ersten Arbeitssitzung wurden jene Fälle überprüft, die Priester betreffen, die noch im Dienst sind. Im Falle eines Autoritätsmissbrauchs gegenüber einem Minderjährigen, der drei Jahrzehnte zurück liegt, wurde festgestellt, dass eine verhängte Maßnahme nur teilweise umgesetzt worden ist.
 
Zum Schutz des Opfers werden der Name des beschuldigten Priesters und die getätigten Maßnahmen nicht veröffentlicht.
 
Die Diözese hatte nach Bekanntwerden des Falles vor etwa 30 Jahren sofort die vorgesehenen Schritte gesetzt und die Staatsanwaltschaft informiert. Aufgrund eines Hinweises wurde vor einigen Jahren der Fall noch einmal aufgerollt und die Glaubenskongregation in Rom informiert. Für die Kongregation genügten die von Seiten der Diözese vorgesehenen Schritte, die aber bisher nicht komplett umgesetzt worden waren. Die vollständige Umsetzung der Maßnahmen ist nun durch die Diözesanleitung erfolgt. Zum Schutz des Opfers werden der Name des beschuldigten Priesters und die getätigten Maßnahmen nicht veröffentlicht.
Im Rahmen des Treffens wurden zudem weitere bereits bekannte Fälle überprüft. Sie betreffen beschuldigte Priester, deren Fälle den zuständigen Stellen im Vatikan gemeldet wurden und abgeschlossen sind, die aber nach wie vor in der Seelsorge mitarbeiten.
 
 
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Am Pere

Klassisches Gelabere von der Kirche!
Missbrauch an Schutzbefohlenen gehört unverzüglich und bedingungslos angezeigt und der/die Täter/in gehören strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen, nicht zivil- oder kirchenrechtlich; dies höchstens in einem zweiten Moment.
Und wenn ich lese, dass etwas für die Kirche finanziell zu aufwändig sei, muss ich lachen und weinen zugleich.
Es braucht auch keine Expertengruppe, sondern ein knallhartes Vorgehen der Opfer - nur dadurch werden die Täter an den Pranger gestellt. Wer sich auf einen Deal mit der Kirche ist selbst schuld, denn wer missbraucht wird und danach nicht rigoros vorgeht, spielt der Zermürbungstaktik der Kirche in die Hände.

Thu, 06/02/2022 - 14:09 Permalink

Ich bin zwar in der Schule geschlagen worden (die Italienischlehrerin war noch eine Faschistin), aber ich habe mich gewehrt und zurückgeschlagen, was damals für viel Aufsehen gesorgt hat. Ich habe davon aber keine psychische Schäden, sondern nur eine leichte Gehörschädigung am rechten Ohr (die Lehrerin war Linkshänderin) davongetragen.

Thu, 06/02/2022 - 15:52 Permalink

Entsetzliches Gelaber der Kirche,wie immer und passieren tut NICHTS,Vertuschungen weiterhin wie bisher,sie geben nur zu,wo sie nicht mehr raus können und dies nur erst nach 30 Jahren,zum Weinen,ihr PHARISÄER und HEUCHLER!

Fri, 06/03/2022 - 09:13 Permalink

Gottfried Ugolini hat meiner Meinung nach in Bezug auf die Einschätzung und die Dynamiken von sexuellem Missbrauch in der Kirche viel Zutreffendes sagt. Zugleich spricht er die Verantwortung der Institution Kirche kaum an und bekommt kritische Fragen auch nicht gestellt. Grundsätzlich ist erfreulich, dass die Kirchenleitung nunmehr die begangenen Missbrauchsfälle aufarbeiten will. Ob es dazu so viel Zeit braucht, sei dahingestellt. Ich bezweifle, dass die eingesetzte Expertengruppe bestehend u.a. aus Generalvikar und diöz. Fachstellenleiter ihrer Aufgabe der Überprüfung der Fälle von diensttuenden Priestern mit Missbrauchsgeschichte gerecht werden kann. Dazu wäre eine unabhängige Expertengruppe frei von Bindungen an die Diözese nötig. Auch gibt es bisher keine offizielle Stellungnahme zum Vorschlag eines Betroffenenbeirates, um der Stimme der Betroffenen Gehör zu verschaffen und ihnen etwas Gerechtigkeit und Würde zurückzugeben. Gottfried Ugolini betont, dass eine einfache Versetzung von Geistlichen mit Missbrauchsvorwürfen heute nicht mehr möglich wäre und dass die Gemeinde informiert würde. Noch 2018 ist dies bei der Beauftragung von Timothy Meehan von den Legionären Christi, er hatte eine entsprechende Vorgeschichte, erfolgt. Weder Fachbeirat noch Pfarrei wurden damals informiert. Bischof Ivo Muser hat den Fehler inzwischen eingeräumt und vor eineinhalb Jahren den Priester vom Dienst entbunden. Dringend nötig sollten jene Faktoren untersucht werden, die innerhalb der Institution Kirche Missbrauch in vielfältigen Formen begünstigen. Dazu zählt das überhöhte Priesterbild, die Gehorsamsstruktur, die Frauendiskriminierung, mangelnde Korrekturmechanismen sowie die Überbetonung der Institution.

Sat, 06/04/2022 - 12:07 Permalink