Turbulenzen ohne Ende
Den Gemeindewahlen in 16 italienischen Provinzhauptstädten hatten die Parteien keine besondere Wichtgkeit eingeräumt. Doch der Urnengang hat sich zu einem politischen Tsunami entwickelt, dessen Folgen derzeit nicht absehbar sind. Die Lega Nord kämpft nach dem Debakel in zehn Stichwahlen ums Überleben. Im Veneto basteln Hardliner bereits an der Rückkehr zur militanten Liga Veneta. Silvio Berlusconi, der vor allem die schwere Niederlage in Rom schlecht verdaut hat, dreht die Uhr um Jahre zurück: bereits in wenigen Wochen kehrt der PDL zum "erfolgreichen Modell Forza Italia" zurück.
Berlusconi will sich vor allem von der ehemaligen Nationalen Allianz trennen. Die Entscheidung, die im Popolo della Libertá Bauchschmerzen und Grabenkämpfe auslöst, trifft Berlusconi wie immer im Alleingang. Die Partei übt sich täglich in politischer Schizophrenie: Während der Cavaliere der Regierung Loylität zusichert, geben andere wie Fraktionschef Renato Brunetta ihr Bestes, um sie zu destabilisieren. Das tägliche Trommelfeuer ist so erbarmungslos, daß die fünf PDL-Minister Berlusconi um Rückendeckung ersuchten und mit Rücktritt drohten.
Daß die berlusconihörigen Rechtsblätter Libero und Il Giornale täglich auf die Regierung einschlagen, die vom Cavaliere unterstützt wird, erhöht die politische Verwirrung. Italiens Rechte muß sich nun um die Gründung einer neuen Partei bemühen. Bereits in wenigen Tagen treffen sich die ehemaligen Statthalter der Nationalen Allianz – von Francesco Storace über Ignazio La Russa bis zu Gianni Alemanno – zum schwierigen Versuch, eine neue Rechtsunion aus der Taufe zu heben.
Auch im Partito Democratico, der bei den Gemeindewahlen einen unbestreitbaren Erfolg errungen hat, fliegen die Fetzen. Angesichts des bevorstehenden Parteitags melden sich fast täglich neue Bewerber um die Nachfolge von Guglielmo Epifani zu Wort. Für Polemiken sorgt vor allem Matteo Renzi, der einen schwierigen Drahtseilakt versucht. Um Spitzenkandidat bei den nächsten Wahlen zu werden, kandidiert er für den Parteivorsitz – ein Posten, der ihn eigentlich nicht interessiert. Der Bürgermeister von Florenz befindet sich in einer prekären Situation. In Umfragen liegt er als beliebtester Politiker in Führung. Doch da Neuwahlen nicht in Aussicht sind, könnte er bis dahin verheizt werden. Mit seinen täglichen, öffentlichen Stellungnahmen macht er sich in der Partei zunehmend Feinde. Hat Renzi bisher auf offenen Vorwahlen für den Spitzenkandidaten bestanden, legt er nun eine neue Forderung auf den Tisch: Wer Parteichef wird, soll bei den kommenden Parlamentswahlen als Listenführer antreten.
Turbulenzen, wohin man blickt. Auch in der Fünfsterne-Bewegung weicht die Euphorie nach dem Wahlerfolg im Februar zunhmend der Ernüchterung. Mit dem Austritt der Senatorin Fabiola Anitori hat Grillos Bewegung bereits ihre siebte Parlamentarierin verloren. Weitere Abgänge zeichnen sich ab. Fazit: Vier Monate nach den Parlamentswahlen haben sich die Parteien zu Baustellen gewandelt – mit ungewissem Ausgang. Die täglichen Turbulenzen schlagen sich vor allem auf die Regierung Letta nieder, die sich in einem politischen Minenfeld bewegt, obwohl die Koalitionspartner ihr verbal fast täglich die Unterstützung zusichern, um ihr wenige Stunden später ein Bein zu stellen. Nun droht ausgerechnet Mario Monti damit, dem Kabinett das Vertrauen zu entziehen – einer also, der als Regierungschef dieselben Erfahrungen sammeln mußte. Schizophrenie in Reinkultur.