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Am Teufelsegg

Vier Wochen lang wurde auf 2.400 m in der Nähe der Schutzhütte Teufelsegg gegraben: ein Forschungsprojekt des Südtiroler Archäologie Museums. Eine Archäologie-Reportage.
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Foto: SAM

 


Andreas Putzer, Archäologe beim Archäologischen Museum Südtirol in Bozen, ist schon von einer kleinen Gruppe Menschen umringt. Alle gemeinsam werden wir 400 Meter Höhenunterschied hinter uns legen, um die Grabungsstelle kurz vor dem Teufelsegg auf 2.400 m zu erreichen. Den Weg entlang, bei angenehmem Sonnenschein, erzählt er uns über die Vergangenheit im dortigen Tal, wo noch heute Bauern ihre Schafe und Ziegen auf die Hochalmen im Ötztal treiben, wie die kleine Ortschaft vor den berüchtigten 70er Jahren ausgesehen hatte, als Leo Gurschler, der Mann mit dem Helikopter, die erste Seilbahn auf den Gletscher und die großen Hotelanlagen bauen ließ. Davor thront immer noch die kleine Kirche mit ihrem eigenwilligen Kirchturm auf dem kleinen Hügel, schon fast zur ironischen Silhouette verkommen.

 

Damals – hier bezieht sich Putzer nun auf vor über 5000 Jahren, also zu Ötzis Zeiten – und bis 1919, als die neue Staatsgrenze zwischen Österreich und Italien gezogen wurde, war dieses Gebiet bis hinunter ins mittlere Ötztal vereint, samt gemeinsamen Höfen und Familien. Noch heute gibt es reichliche Verwandtschaften... Er zeigt uns nun den Viehpferch aus Holz, wo die Tiere versammelt werden, vor dem großen Auftrieb oder nach dem Abtrieb, genau einige hundert Meter schräg seitlich hinter der Talstation, wo die heutige Skipiste endet. „Die neue“, unterstreicht er. Denn, im Jahr 2015, als man eine neue große Skipiste dort am gesamten Hang herunter plante, samt Felssprengungen und Begradigung bestimmter natürlicher Verläufe, hatte das Amt für Bodendenkmäler einen ersten Einspruch erhoben, mit der Begründung, die Erlaubnis nur dann zu erteilen, wenn es keine Hinweise auf archäologische Orte gäbe. Daraufhin sind einige Archäologen den Berghang abgegangen. Auf der Suche nach Spuren, von „damals“, denn das gesamte Gebiet dort wird aufgrund der seit Jahrtausenden praktizierten Wanderweidenschaft als archäologisch wichtig eingestuft. Andreas Putzer war dabei, und – sie wurden fündig. An mehreren Punkten haben sie das erkannt, was als typische Merkmale für mögliche Fundstellen gilt: ebene Flächen, Wasserquellen in der Nähe, Felsen als Rückhalt und eine freie weite Sicht ins Tal und in die Ferne auf die umliegenden Berge. Genau so sieht es aus, da oben am Teufelsegg, wo zwei längere Gräben geöffnet worden sind. Einer horizontal und der andere vertikal zum Berg hin.

Nach einer guten Gehstunde kommen wir oben an und sehen einen Mann auf einer Leiter und einen, der halb sitzend und halb kniend auf einem Block Notizen schreibt: Tobias Mores und Nico Aldegani. Beide helfen bei den Grabungen nicht nur ihres historischen Wissens wegen mit: Mores war schon öfters mit Putzer unterwegs und Aldegani hat bei Grabungen im Trentino und in Algerien mitgemacht. Erfahrene Augen und erfahrene Hände. Mores ist Lehrer, Aldegani ist experimenteller Archäologe und macht Führungen im Archäologischen Museum.

 

2 Meter breit und 8 Meter lang, sowie zirka 30 cm tief: da liegt ein Teil uralter Geschichte vor mir. „Wir haben Glück“, sagt Putzer. Oder einen guten Spürsinn? Da steckt viel Arbeit, Erfahrung, Sondage, Fleiß dahinter, und – ja! – auch eine Portion Glück braucht es, um die richtige Stelle anzubohren. Hier wurde eine gut erhaltene Feuerstelle gefunden, bestens in die Erde eingetieft, also wahrscheinlich befand sie sich in einem Haus, einem steinernen Haus, dessen Grundmauern wir am Wiesenboden an Hand von frei herumliegenden, aber doch einer bestimmten Linie folgenden, großen Steinen identifizieren können. „So etwas ist von Menschenhand angelegt, das hat nicht die Natur geschaffen“, betont unser Archäologe und sagt weiter, dass drum herum kleine Knochensplitter gefunden worden sind. War es ein Opferplatz? Davon sind schon mehrere in unserer Südtiroler Gegend gefunden worden. Der letzte am Finailgletscher, ganz in der Nähe, wo Putzer mit seiner Gruppe auf 2.500 m gegraben hatte und dann das gefundene, verbrannte Holz auf dessen Herkunft untersucht hat lassen, um rauszufinden, wie die Baumgrenze zu jener vorgeschichtlichen Zeit verlaufen hätte können. Tatsache ist, dass es in der mittleren Bronzezeit rund um jene Feuerstelle Wald gegeben hatte und später dann, gegen Ende des Gebrauchs dieses Opferplatzes, nicht mehr, weil das verbrannte Holz demjenigen entsprach, das in tieferen Lagen wuchs. Vielleicht hatten es die Menschen dann satt, es immerzu bis da hinauf zu schleppen, und hatten den Opferplatz auf der Finailhöhe aus diesem Grund aufgegeben ?

Was aber gab es am Teufelsegg? Wer war hier? „Es könnte eine Hirtenhütte samt Viehpferch gewesen sein“, meint Putzer. Die Tiere könnten also hier über Nacht eingesammelt worden sein, denn die umliegende Wiese ist zu sumpfig, um Tiere dort übernachten zu lassen...

 

Ferner wurden Keramikstücke gefunden, mehrere kleine, die allesamt aus ein und demselben Topf stammen könnten. Keramik aus der Laugen-Melaun-Zeitperiode - ergänzt Tobias. Das weist auf die Spätbronzezeit hin, also 14. Jahrhundert v. Chr. Weiters einen Feuersteinsplitter und mehrere glatte, halbrundliche oder ovale Steine, die eher wie Flussgeröll aussehen als solche, die man dort in der Nähe oder auf dem Weg dorthin sehen und finden kann. Sie könnten also wirklich  von Menschenhand in diese Höhe gebracht worden sein.

Genau dort, wo einige dieser Kleinfunde gemacht worden sind, wurden 2015 nach der Begehung der Archäologen einige Bodenproben entnommen, die auf die schon erwähnte „andere“ Bodenschicht hingewiesen hatten. Daraufhin hatte Andreas Putzer ein 3-Jahres-Forschungsprojekt entwickelt, wofür vom Land ein Beitrag von 100.000 Euro geleistet wird, in dem das Südtiroler Archäologie Museum, das Botanische Institut Innsbruck, das Amt für Geologie und das Amt für Bodendenkmäler der Provinz Bozen Partner sind: 2018 gab es mehrere Lokalaugenscheine in Form von genaueren Begehungen und Observierungen, 2019 die aktuelle Grabung über vier Wochen im August und 2020 dann die verschiedenen Untersuchungen der Funde im schon genannten Botanischen Institut in Innsbruck und der University of Bristol. Ersteres wird die verschiedenen Holzkohlestücke auf deren Eigenschaften untersuchen, um festzustellen, ob es sich um mitgeschlepptes Holz oder vor Ort gefundenes handelt, woraufhin auch die damalige Höhe der Baumgrenze bestimmt werden kann, sowie die menschliche Nutzung der vorgefundenen Fläche. In Bristol hingegen soll etwas viel Aufregenderes untersucht werden: Rückstände von Milchfetten an den Keramikteilchen. Das würde nämlich Aufschluss darüber geben, ob es schon Milchverarbeitung auf der Alm gegeben hatte oder aber nur Tierhaltung, oder gar beides, wobei immerhin genügend Milch für die Kleintiere und für eine eventuelle Käseverarbeitung bereit gehalten worden wäre. Dies ist auf jeden Fall der erste Versuch einer solchen Untersuchung in Südtirol. Es handelt sich hier um ein relativ neues Verfahren, das in der Schweiz schon zu einem interessanten Resultat geführt hat: eine solche Milchverarbeitung hätte es dort schon zu Ötzis Zeiten, also 3.300 v.Chr., gegeben! Europaweit gibt es noch ältere Hinweise, wobei die bisher ältesten sich auf die balkanische Gegend berufen, wo sie auf 6.000 Jahre v. Chr. datiert wurden. Das entspricht der Jungsteinzeit.  

 

Wir wissen, dass in der Jungsteinzeit die Menschen sesshaft geworden waren. Aber woher nahmen diese die Kenntnisse der darauffolgenden Tierzähmung und -haltung sowie der Anpflanzung von Getreide und anderen Nutzpflanzen? „Bauer sein wurde nicht von den Europäern erfunden, dieses Wissen und die entsprechenden Technologien wurden von Völkern aus dem Vorderen Orient mitgebracht, die über den Balkan nach Europa eingewandert waren“, erklärt uns Andreas Putzer, der über ein profundes geschichtlich und archäologisch interessantes Wissen verfügt, das er sich in jahrzehntelanger leidenschaftlicher Ausübung seiner Tätigkeit angeeignet hat. Ihm wurde schon von seinen Professoren während der Studienjahre in Innsbruck prophezeit, dass er ein gutes Gespür und die richtige Dosis an Sensibilität habe, um Funde zu machen. Deshalb wollten ihn auch viele an deren Ausgrabungen dabei haben, allein schon des guten Omens wegen...

Was passiert noch im Laufe der letzten Grabungswoche? „Die Herdstelle wird zerlegt werden, leider“, sagt Putzer, „aber das ist halt mal die Aufgabe des Archäologen, das zu zerstören was er findet“, fügt er lachend hinzu. „Es geht darum, den Aufbau besser dokumentieren zu können. Wir haben uns für die beiden Schnitte über insgesamt 32m2 Grabungsfläche beschränkt, denken aber, dass das gesamte historische Areal weiter über den Hang hinunterragt.“ Vielleicht wird auch im nächsten Jahr noch einmal gegraben, denn Zeit und Leute sind hier knapp – einmal abgesehen von den zur Verfügung stehenden Geldmittel, die dies alles finanzieren sollen: vier Wochen, vier Leute, drei Männer und eine Frau, alle Archäologen (sie macht zur Zeit ihr Praktikum am Archäologischen Museum), auf über 2000 m Höhe, wo das Wetter sehr unbeständig ist, mal heiß mal kalt, starke Sonne, kalter Wind, Regen und Gewitter... Das alles haben die tapfer ausgehalten.

 

Wie wird gegraben? Was gibt uns denn Aufschluss darüber, ob wir an einer archäologisch interessanten Stelle graben oder einfach nur ein bisschen Erde beiseite schaffen? Die sogenannte „andere“ Bodenschicht – von der wir schon gesprochen haben - ist in diesem Fall eine dickere Schicht mit schwarzer Erde und dann eine weitere mit hellbrauner, lehmiger und sandiger Erde, während die bloß „geologische“ Schicht dann anders aussieht und mehr Schotter und Steine enthält. Also: von Menschenhand manipulierte Erde lässt sich deutlich unterscheiden. Sobald sich das Auge an diese Sichtweise gewöhnt, wird es wahrlich aufregend, Nico Aldegani zuzusehen, während er mit seiner kleinen Schaufel schwarze Erde abschabt, sie in einen roten Kessel gibt, dann mit einem kleinen Besen das freigeschaufelte Gestein vom Staub reinigt und sich dabei zwei rötlich gefärbte Steinplattecken als solche entpuppen, die beide Ecke an Ecke im Boden verankert angelegt sind. War das vielleicht eine weitere Feuerstelle? Diesmal im freien Gelände? Wer weiß?

Nico Aldegani zeigt mir auf seinem hochprofessionellen Satellitenmessgerät, einer sogenannten Total-Station, die registrierten Punkte, die genau den einzelnen Fundstellen entsprechen. Mit diesen kann dann mithilfe eines AutoCAD-Computer-Programms, wie es die Architekten für ihre Baupläne viel benutzen, eine genaue Lagezeichnung angefertigt werden, ohne mühsam die einzelnen Punkte auf Millimeterpapier einzeichnen zu müssen, wie das anfangs Andreas Putzer mit dem Theodoliten gemacht hatte, der dann leider nicht mehr funktionierte. Er zeigt uns noch die grafische Darstellung des längs zum Berg hin verlaufenden Grabens oder Schnittes, wie es im archäologischen Jargon heißt.

Das kleine Team wird noch einiges mehr herausfinden, aber da sind wir alle schon längst wieder in den Bequemlichkeiten und Herausforderungen unserer schnelllebigen Zeit des 21. Jahrhunderts n. Chr. involviert und die Urgeschichte mit all ihrer Faszination ist wieder weit von uns entfernt. Oder doch nicht so weit?