Unsere besten Zeiten haben wir wohl hinter uns
Ich komme soeben aus der Türkei zurück, wo ich ein paar Wochen mit Filmstudenten der Uni Izmir zusammen gearbeitet habe. Bevor ich losfuhr, wollte ich einen Bericht über die Stimmung in diesem von mir so geliebten Land schreiben, nach den Wahlen Anfang November, bei denen Präsident Erdoğans Regierungspartei unerwartet klar zurück an die volle Macht gewählt worden war. Nach dem ungeklärten Bombenattentat in Ankara, bei dem 100 Friedensaktivisten ermordet wurden. Nach der gewaltsamen Schließung und Übernahme mehrerer Zeitungen und Fernsehkanäle durch das in seiner wachsend autoritären Haltung scheinbar legitimierte Regime.
Doch mein Unterfangen wurde schnell unmöglich. An jedem einzelnen Tag den ich dort verbrachte, geschah irgend etwas, das allein schon für einen langen Bericht genügt hätte. Die syrischen Flüchtlingskinder, die von mir fotografiert werden wollten. Und die, die wenige Tage später leblos und aufgebläht ans türkische Land gespült wurden. Die Fussballfans, die die Schweigeminute für die Opfer von Paris niederpfiffen. Die Verhaftung zweier Journalisten, die illegale Waffenlieferungen aus der Türkei nach Syrien aufgedeckt hatten. Dann die Erschießung des Anwalts und Menschenrechtlers Elçi vor laufenden Fernsehkameras. Ganz zu Schweigen vom Abschuss des russischen Kampfbombers, als dieser möglicherweise für wenige Sekunden türkischen Luftraum durchflog. Und vom zu erwartenden Kläffen das diesem folgte und noch folgt.
Die Nachrichten hörten nicht mehr auf und waren doch alle längst irgendwie obsolet als ich nach Italien zurückflog, während sich gerade die europäischen Regierungsvertreter mit den Kollegen aus Ankara trafen, um ihnen in einem Kuhhandel 3 Milliarden Euro für die Zurückhaltung der durchs Land reisenden Flüchtlinge zu bieten.
Da ich aus eigener Erfahrung weiß, dass wir uns die Türkei anders vorstellen als sie ist: Eine Universität in einer türkischen Großstadt sieht unter allen Gesichtspunkten genau so aus, wie eine Universität, sagen wir in Frankreich oder Italien. Einziger Unterschied, in der Türkei wird man kaum eine Studentin mit Kopftuch antreffen.
Ich hatte also mit Menschen zu tun, die aus jener Hälfte der türkischen Bevölkerung kommen, die für den Präsidenten kein gutes Wort übrig haben. Die seine autokratische Haltung für ein gefährliches Symptom psychisch kranken Machtstrebens halten. Die sich über Medien informieren, die nicht direkt von seinen Lakaien geschrieben werden. Menschen, für die Homosexuelle, Anders- und Nichtgläubige zum Freundeskreis gehören und die demokratische Entscheidungsprozesse und freie Meinungsäußerung für menschliche Grundrechte halten.
Es sind Menschen, die die von uns so genannten „europäischen Werte“ für sich beanspruchen, die Europa mögen und kennen, aber auch irgendwie glauben, dass die Zukunft womöglich anderswo liegt.
Was für ein Schlag muss es für sie sein, dass genau jetzt, nach Monaten eines zuletzt extrem autoritären Regimes (ich meide bewusst den häufig zu unreflektiert verwendeten Begriff „Diktatur“, immerhin ist die Regierung ohne bekannte Wahlfälschungen gewählt worden), diesem von den europäischen Leadern der rote Teppich ausgerollt wird?
Das Regime Erdoğan schützt sein eigenes Volk nicht, wie beim Anschlag in Ankara, wo dem Geheimdienst die Attentäter bekannt waren, aber diese angeblich nicht verhaftet werden konnten „da sie ja noch keinen Anschlag ausgeführt hatten“ (dies unter einer Regierung, die Schriftsteller für Bücher verhaftet ließ, die sie noch gar nicht veröffentlicht hatten, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen). Das Regime schießt sogar aufs eigene Volk, sei es mit Tränengas (unzählige unschuldige, teils sogar unbeteiligte Menschen sind in den letzten Jahren durch Polizeigewalt verletzt und getötet worden) oder mit stärkeren Waffen, wie im angeblichen Kampf gegen kurdische Terroristen, der im Sommer bewusst wieder entzündet worden war, um die Spannung im Lande anzuheizen und bedrohliche politische Gegner als Unterstützer des Terrors diskreditieren zu können.
Das Regime hat inzwischen die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung weitreichend ausgehebelt, indem jegliche Demonstration mit Tränengasbeschuss beendet wird, es hat Journalisten für die Aufdeckung von Unrecht verhaftet, anstatt die entdeckten Verbrecher zu verfolgen, hat Redaktionsleiter durch Leute aus den eigenen Reihen ersetzt und vor jedem Pressegebäude rund um die Uhr Wasserwerfer geparkt.
Die beeindruckende zivilgesellschaftliche und parteiunabhängige Bewegung, die sich im Rahmen der Gezipark-Proteste vor eineinhalb Jahren so positiv, friedfertig, ironisch und selbstsicher zeigte, ist nach und nach erfolgreich in Furcht und Sorge getrieben worden.
Nun wurde am Sonntag der türkische Ministerpräsident und Handlanger Erdoğans, Ahmet Davutoğlu, vom EU-Ratspräsidenten Tusk lachend umarmt. So wurden ihm beste Pressebilder für zu Hause geliefert, wie bereits bei Angela Merkels Besuch kurz vor den türkischen Wahlen beim Treffen auf Erdoğans goldenen Riesensesseln.
Was für ein Schlag, genau in diesem Moment und diesem Regime zu versprechen, nun plötzlich den EU-Beitritt beschleunigen zu wollen, der ja 10 Jahre u.a. offiziell aufgrund von Menschenrechtsfragen gebremst wurde und den kaum jemand heute noch für wirklich erstrebenswert hält, weder in Europa noch in der Türkei (ganz abgesehen davon, dass er technisch noch lange gar nicht möglich sein wird, so sehr ich es mir für meine Freunde wünschen würde).
Natürlich, es ist völlig sinnlos über die aktuelle Flüchtlingskrise und über den Konflikt in Syrien ohne die Türkei zu sprechen. Allein schon aufgrund der Geografie. Gleichzeitig hat sich aber in den vergangenen Wochen noch stärker als bisher gezeigt, wie sehr auch Syrien ein Austragungsort von Konflikten ist, die bei weitem nicht nur mit der Innenpolitik des Landes selbst zu tun haben. Auch deshalb muss der direkte Nachbar Türkei, bei seiner Suche nach Vormacht in der Region gut im Auge behalten werden, ebenso wie Russland und wer sonst noch hier die Fäden mit ziehen möchte.
In diesem Sinne bleiben mir die Worte einer türkischen Freundin besonders in Erinnerung: „Unsere besten Zeiten haben wir wohl hinter uns.“ Mit „uns“ meinte sie nicht das türkische Volk, sondern uns alle.
Während ich diese Zeilen veröffentliche, erhalte ich die Nachricht von einer Explosion in der Metro in Istanbul. Es geht weiter.