Politics | Flüchtlinge

Für ein paar Wählerstimmen mehr

Die Rettungsaktionen im Mittelmeer werden unter Generalverdacht gestellt. Nicht in Aufklärungsabsicht, sondern aus politischem Kalkül.
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Migranti
Foto: upi

Europas einzige Anstrengung in der Flüchtlingskrise scheint derzeit daran zu bestehen, sich die Menschen vom Leib zu halten. Mit Hilfe von Ländern, in denen es weder rechtsstaatliche Verhältnisse noch geregelte Asylverfahren gibt, wie Türkei und Libyen. Gleichzeitig werden diejenigen unter Beschuss genommen, die auf dem Mittelmeer Tag für Tag Tausende von Flüchtlingen vor dem Ertrinken retten.

Denn Europas Abschottung hindert die Menschen nicht daran, dennoch zu versuchen, es über Italien und Griechenland zu erreichen. Also über das Meer. Sie riskieren dafür ihr Leben und das ihrer Kinder. Sie vertrauen sich Schleppern an, die sie wenige Meilen von der libyschen Küste ihrem Schicksal überlassen. Immer häufiger übernehmen Flüchtlinge selbst die Steuerung der Boote. Sie brauchen dafür nicht die Überfahrt zu zahlen oder werden von Schleppern und libyschen Mittelmännern mit Waffengewalt dazu gezwungen.

Die NGO's handeln, weil Europa wegsieht

Sie kommen also weiterhin (wenn sie es schaffen) auf „illegalem“ Weg. Wie denn sonst? Es ist für sie die einzige Möglichkeit, dem Krieg, dem Terror und dem Hunger zu entfliehen. Legale Optionen, die das Schlepperhandwerk überflüssig machen könnten, gibt es nicht. Die Einrichtung humanitärer Korridore wird von der EU nicht einmal in Betracht gezogen. Die meisten (vorwiegend osteuropäischen) Länder verweigern sich strikt, auch nur einen einzigen Flüchtling aufzunehmen. Und brauchen für diese Boykotthaltung nicht einmal Sanktionen seitens der EU zu befürchten.

Italien und Griechenland, die das „Pech“ haben, näher an Afrikas Küsten zu liegen, sollen halt damit allein fertig werden. Allein in den Ostertagen haben Rettungsschiffe über 8.500 Menschenleben gerettet, 13 Leichen wurden geborgen, die Zahl der Vermissten ist ungewiss. Die Retter tun nah den libyschen Küsten das, was früher die italienische Marine mit der Aktion „Mare Nostrum“ tat, welche die italienische Regierung 2013 nach der Katastrophe vor Lampedusa ins Leben rief. „Mare Nostrum“ wurde eingestellt , weil die EU die Forderung Italiens nach einer europäischen Beteiligung ablehnte. Seitdem übernehmen vor allem internationale NGO's diese Aufgabe: „Ärzte ohne Grenzen“, „SOS Méditerranée“, „Sea watch“, „Save the children“ und andere. Private Initiativen, wie „Jugend Rettet“ aus Deutschland, kamen hinzu.

Die EU müsste eigentlich den Rettern danken, dass sie ihr diese schwierige Aufgabe abnehmen. Stattdessen wirft ihnen die europäische Grenzagentur Frontex vor, sie würden Menschen zur Flucht „anlocken“ und sogar mit Schleppern zusammenarbeiten. Frontex nannte keine konkrete Organisationen bzw. Beweise und hat inzwischen erklärt, die Rettung von Menschenleben sei „selbstverständlich immer“ prioritär. Doch da war die Auseinandersetzung schon voll im Gange. Andere waren inzwischen auf den Karren gesprungen, vor allem populistische Politiker der 5-Sterne-Bewegung und der extremen Rechten. Wirbel verursachte ein Fernsehauftritt des Oberstaatsanwalts von Catania Zuccaro: Er wisse, dass einige NGO's „von Schleppern finanziert werden“, dürfe aber seine Informationen rechtlich nicht verwenden. Ziel sei möglicherweise, „die italienische Wirtschaft zu destabilisieren und daraus Vorteile zu ziehen“, fügte er sibyllinisch hinzu.

„Mittelmeer-Taxis“

Starke Vorwürfe, die starke Reaktionen hervorriefen. Von den NGO's natürlich, die sich zu Unrecht diskreditiert sehen und befürchten, dass ihre Aktivitäten dadurch Schaden nehmen könnten. Der Leiter der italienischen Sektion von „Ärzten ohne Grenzen“ erinnerte daran, dass die NGO's „auf See sind, um zu tun, was andere tun müssten“. Und dass alle Rettungsaktionen von der italienischen Küstenwache mit Sitz in Rom koordiniert werden, die den Rettungsschiffen mitteilt, wo sie zu intervenieren haben.

Auch Vertreter von Regierung und Parteien sind über Zuccaros Äußerung irritiert. Justizminister Orlando mahnte, ein Staatsanwalt müsse die „Justizakten sprechen lassen“ und sich vor öffentlichen Verdächtigungen hüten, die er nicht belegen kann. Kopfschütteln auch bei vielen Juristen. „Wie kann ein Staatsanwalt behaupten 'Ich weiß es, glaubt mir einfach', ohne irgendwelche Fakten zu präsentieren?“ fragt z. B. der ehemalige Oberstaatsanwalt von Mailand, Bruti Liberati. Er müsse vielmehr so lange untersuchen, bis er justitiables Material auftischen kann. Das sei in einem Rechtsstaat nun mal so. Und alles andere inakzeptabel.

Das sieht Luigi Di Maio, der wahrscheinliche Spitzenkandidat der 5SB für das Amt des Ministerpräsidenten, ganz anders. Er feiert den Staatsanwalt aus Catania als Helden, der „endlich mit den Heucheleien in der Flüchtlingsfrage“ Schluss macht, und wirft mit obskuren Andeutungen über die betrügerischen Machenschaften von NGO's nur so um sich. Als Grillos gelehriger Schüler weiß er, dass das Thema Flüchtlinge zur politischen Instrumentalisierung bestens geeignet ist. Gleich nachdem Frontex ihren Verdacht geäußert hatte, postete er auf Facebook: „Wer bezahlt diese Mittelmeer-Taxis? Und warum? Wir werden eine parlamentarische Anfrage stellen und diese Geschichte gründlich beleuchten, und hoffen, dass Innenminister Minniti alles dazu sagt, was er darüber weiß“.

Mittelmeer-Taxis? Wer die dramatischen Bilder der Rettungsaktionen gesehen hat, die panische Angst der Flüchtlinge in Seenot, die enorme Belastung der Helfer im Wettkampf mit dem Tod, kann diese Bezeichnung für die Rettungsschiffe nur zynisch nennen. Di Maio sollte mal selbst an einer solchen „Taxifahrt“ auf dem Mittelmeer teilnehmen. Vielleicht (?) begreift er dann, was er da von sich gegeben hat. Was die Finanzierung betrifft, verweisen die NGO's immer wieder darauf, dass ihre Einnahmen ausschließlich aus privaten Spenden – von einzelnen Personen, von einigen Unternehmen und Organisationen – stammen und dass sie ihrer Verpflichtung, darüber öffentlich Rechenschaft abzulegen, regelmäßig nachkommen.

Politische Spekulation mit Menschenleben

Kann man damit ausschließen, dass es unter ihnen „schwarze Schafe“ gibt? Sicher nicht. Solange Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen keine andere Möglichkeit als illegale Fluchtwege haben, wird es immer auch illegale Geschäfte mit dem Elend geben. Auch unter den vielen Organisationen, die auf dem Mittelmeer agieren, könnten solche dabei sein, die mit den Geschäftsmachern in Kontakt stehen oder gar kooperieren. Wenn es dafür konkrete Verdachtsmomente gibt, müssen die Untersuchungsbehörden ermitteln und dafür Beweise erbringen, die der Justiz erlauben, gegen Gesetzesverstöße vorzugehen und die Verantwortlichen ggf. zu verurteilen. Das fordern die NGO's selbst, im eigenen Interesse. Pauschale Verdächtigungen und Diffamierungen von Organisationen und ehrenamtlichen Helfern aber, die Tausenden von Männern, Frauen und Kindern vor dem Tod bewahren, sind verachtenswert. Wer das tut, betreibt politische Spekulation mit Menschenleben. Für ein paar Wählerstimmen mehr. Die freiwilligen Retter verdienen Solidarität und Unterstützung, denn sie übernehmen anstelle staatlicher Institutionen eine äußerst belastende Pflicht. Während die EU und die sich verweigernden Mitgliedstaaten sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen.

Diejenigen, die von „Heuchelei in der Flüchtlingsfrage“ reden, haben auf die Frage: „Soll man sie sonst sterben lassen?“ keine Antwort. Oder verkünden, man solle ihnen „dort helfen, wo sie herkommen“. Wie, wann und ob überhaupt eine solche Option realistisch ist und den Menschen nützt, die jetzt Schutz brauchen, schert sie nicht.

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kurt duschek Thu, 05/18/2017 - 07:53

Gerade diese letzten Worte im Artikel" ...Diejenigen, die von „Heuchelei in der Flüchtlingsfrage“ reden, haben auf die Frage: „Soll man sie sonst sterben lassen?“ keine Antwort. Oder verkünden, man solle ihnen „dort helfen, wo sie herkommen“. Wie, wann und ob überhaupt eine solche Option realistisch ist und den Menschen nützt, die jetzt Schutz brauchen, schert sie nicht." finde ich treffend formuliert!

Thu, 05/18/2017 - 07:53 Permalink