Was ich von den Ziegen gelernt habe

Ein Gastbeitrag von Martina Mantinger:
Zyklen
Im Nebel erzählen die schneegrauen Schneewechten, wie sie von den
violettgrauen Abgründen und dem bissigen graugrünen Windsturm,
ohnmächtig in der Schwebe zwischen Himmel und Erde,
verlassen wurden.
Wo meine Inspiration herkommt? Ich muss immer lange über alles nachdenken. Ideen entwickeln sich langsam, müssen reifen, ehe ich mich an die Arbeit mache. Ich bin nicht spontan. Leider. Improvisieren oder mich von Emotionen treiben lassen kann ich überhaupt nicht. Ich beneide die Künstler, die dazu imstande sind, aber das liegt einfach nicht in meinem Naturell. Ich muss alles genau planen.
Schon früher in der Kunstschule konnte ich nie schnell, schnell etwas zeichnen. Wenn ich eine Idee habe, dann denke ich ganz lange darüber nach und schreibe auch darüber. So reift eine Vorstellung heran und ich fange an, Skizzen zu machen. Natürlich entwickelt sich ein Bild dann auch noch später während des Malens, aber ich habe schon von Anfang an eine ziemlich genaue Vorstellung davon. Auch wenn ich „nur“ die Luft male. Jeder Strich ist überlegt, alles ist berechnet. Wenn meine äußere Erscheinung auch schlampig und ungepflegt wirken mag – innerlich bin ich ganz anders, nämlich äußerst penibel, genau und planvoll. In der Schule mochte ich Mathematik immer gern, denn sie entspricht meinem Wesen. Viele meiner Werke sind Serien, Zyklen. Sie bestehen oft aus mehr als 100 Bildern zu einem Thema, das ich aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchte. Ich habe mich zum Beispiel mit den Zyklen „Der Schleier der Unterwelt“, „Atman im Nebel und Schneezeit“, „Die gelbe Leere“ und „Flutluft“ befasst. Die Gedanken, Gefühle kann man nicht auf ein einziges Bild reduzieren, daher male ich einen Zyklus.
Ich muss mich ganz einlassen auf ein Thema, richtig darin versenken können. Und so entsteht eine ganze Serie von Bildern, die ähnlich, aber nie genau gleich sind. Ich verkaufe sie auch nicht einzeln, das ginge nicht. Von meiner Gelb-Serie wollte mir ein Hotelier drei Bilder, eine anderer zwei, ein Grödner eines abkaufen. Aber ich habe sie ihnen nicht gegeben – entweder alle oder keines. Mir ist bewusst, dass das absurd ist.
Was würde jemand mit 150 gelben Bildern tun, von denen eines fast genauso aus- sieht wie das andere? Tief beschäftigt hat mich der Zyklus „Flutluft“. Dieses Bedürfnis nach dem Malen der Luft, des Atems, der Seele ist etwas, das aus meinem Inneren kommt und das man ganz schwer erklären kann. Ich habe viel über Philosophie gelesen, auch über die chinesische und die buddhistische Glaubenslehre, und sicher beeinfusst mich das. „Atman“ ist in der indischen Philosophie das Atmen, aber auch die Seele. Wer seinen Atem, seine innerste Seele, kennt und versteht, kennt auch seinen Makrokosmos, den Allgeist, das „Tao“, wie es die Chinesen nennen. Häufg ist es so, dass ich in der Philosophie die Erklärung bzw. die Bestätigung fnde für etwas, das ich in mir spüre oder schon lange gespürt habe, ohne es in Worte fassen zu können. Oftmals besuchen mich Menschen, auch gute Freunde, und wenn sie meine Arbeit sehen, sagen sie etwas Nettes. Dabei fühle ich aber genau, dass sie nicht nachvollziehen können, was ich fühle.
Der Satz des Dichters Novalis „Man ist allein mit allem, was man liebt“ fällt mir in letzter Zeit besonders oft ein. Trotz all dieser Gedanken will ich nicht das bedauernswerte Opfer sein, das niemand versteht. Und schon gar nicht möchte ich die Leute bekehren oder irgendwie beeinflussen, denn ich bin ganz sicher kein Guru oder Prophet. Ich bin nie irgendwelchen Trends nachgelaufen. Dennoch habe ich früher oft Bilder gemalt, um zu provozieren, oder Kunstwerke gefertigt, um gesellschaftliche Missstände anzuprangern. Das Motiv stand dabei im Mittelpunkt und der Anspruch, es möglichst pointiert dazustellen. Es ist mir nicht wichtig, was Menschen über mich denken. Die Zeit des Provozierens und Karikierens ist für mich vorbei. Heute ist das Malen eines Bildes mein Werkzeug geworden. Wenn ich über 100.000 Striche auf ein Blatt Papier male, stundenlang, ohne aufzusehen, ist das für mich wie ein Rosenkranzgebet. Ich konzentriere mich, bis ich in eine Art Ekstase oder Trancezustand gerate, bis ich schwebe.
Wichtig ist meine Versenkung, die Meditation, die Gefühle, die dabei entstehen. Das Resultat, also das fertige Bild, ist für mich am Ende nebensächlich. Ich sammle alle meine Bilder in meiner Werkstatt auf einer Stellage. Ich hänge an jedem einzelnen. Man hat mir vorgeschlagen, meine Bilder im Sommer auszustellen, wenn viele Gäste auf Urlaub hier sind. Aber im Sommer habe ich keine Zeit für Ausstellungen. Da muss ich auf meine Ziegen aufpassen.
Buchpräsentation mit Projektion
Datum: Freitag, 3. Mai 2019
Ort: Sparkassensaal, Kunst Meran, Laubengasse 163, Meran
Zeit: 19 Uhr
Salto in Zusammenarbeit mit Edition Raetia
(Das Kapitel "Zyklen" ist eines der vielen Kapitel im Buch)