Trends im Hotelbau in der Corona-Krise
Hygiene und unterschiedliche Gästekategorien
Ideen aus dem Zug- und Schiffsbau: Bereits Gio Ponti (1891–1979) schenkte im Innenausbau des Hotels Paradiso strengen Anweisungen zur Hygiene größte Aufmerksamkeit. Die Aufstellung, Form, Größe und Materialisierung des Mobiliars und der übrigen Apparate bestimmte Ponti, wie er in seinem Notizbuch vermerkte, in Zusammenarbeit mit der Hotelleitung und in Verbindung mit einem zuständigen Fachmann für Gebäudetechnik.
Als wichtigen Punkt erläuterte er zusätzlich in seinem Notizbuch: «Die Untergeschosse sollten hygienisch, hell, luftig und mit Linoleum ausgestattet werden.» Folglich wurde auch der Laubengang des Hotels mit einem abwaschbaren hellen Anstrich versehen und Beleuchtungskörper wurden flächenbündig in die Decke integriert.
Betrachtet man den gesamten Grundriss der Zimmeretagen, so zerfällt das Erscheinungsbild in zwei grundverschiedene Teile: Die luxuriöseren Räume befinden sich im Westflügel des Gebäudes, während die bescheideneren Zimmer im Ostflügel platziert worden sind. Offenbar hielt Ponti seine Mitarbeiter schon in einer sehr frühen Projektphase an, auf differenzierte Touristenkategorien zu achten. Im Raumprogramm der Herberge bot er nicht nur die klassischen Hotelräumlichkeiten an, sondern zusätzlich auch Räume für Tagesgäste und somit einfache Räume für Bergwanderer und Bergsteiger. Dies ist der Grund dafür, dass das Hotel zusätzlich ein großes Angebot an Gasträumen im Erd- und Obergeschoss hat. Er unterschied im ganzen Haus sehr strikt zwischen «turisti» und «villeggianti». Im skizzierten Tuscheplan notierte das Architekturbüro Pontis am Rande die jeweilige Touristengattung.
Die «turisti» waren Gäste, die einen Kurzaufenthalt planten, wie z.B. Bergsteiger und Wanderer, während die «villeggianti» für teils mehrwöchige Urlaube in den Alpen verweilten. Ponti prognostizierte die Zirkulation und die Komfortansprüche aller Gästekategorien von der Eingangshalle bis zum Speisesaal. Für die Touristen waren im Bettengeschoss Zimmer mit 2er- und 4er-Stockbetten vorgesehen, für die «villeggianti» geräumige Einzel- und Doppelzimmer. In dem für die Angestellten des Hotels entwickelten Raumprogramm vermerkte Ponti, dass die Touristen nicht in Räumlichkeiten oberhalb der Urlauber (villeggianti) beherbergt werden sollten. Zudem sollte man vermeiden, die Urlauber in Zimmern über den Gesellschaftsräumen, wie z.B. Speisesaal und Café, unterzubringen, um so die ruhigsten Übernachtungsmöglichkeiten für sie zur Verfügung zu stellen. «Se potete mettere i turisti sopra le sale e non sopra i villeggianti è meglio.» Mit Fingerspitzengefühl disponiert Ponti die Räume für verschiedene Zielgruppen.
Es gab verschiedene Motivationen, die Hotelgäste in Kategorien zu trennen. Ponti hat in seinem gesamten Schaffen, seinen theoretischen Abhandlungen, Zeichnungen oder Entwürfen und folglich auch beim Hotel Paradiso das Großbürgertum im Visier gehabt. Dieses Hotelprojekt soll jedoch aus einer anderen Perspektive betrachtet werden, denn das Konzept der Modernität galt hier weniger einer spezifischen sozialen Schicht, es ging vielmehr um die grundlegende Erneuerung und Modernisierung aller Lebensbereiche. Als unmittelbares Abbild gesellschaftlicher Wirklichkeiten können von Ponti einige Jahre zuvor entworfene Passagierkabinen für Kreuzfahrtschiffe und Eisenbahnwagen des Schnellzugs Breda ETR 200 «velocissimo« herangezogen werden.
Als italienischer Redakteur und Architekturtheoretiker des 20. Jahrhunderts beschrieb er in seinen umfangreichen Aufsätzen und Manifesten, was moderne Architektur und was Transportmittel auf der Höhe der Zeit zu leisten haben. Ponti präsentierte seine Studien zu den italienischen Schiffs - und Eisenbahnbauten an der IV und V Triennale di Milano einem breiteren Publikum. Hand in Hand mit dem Architekten Giuseppe Pagano entwickelte er einen neuen Expresszug für das Unternehmen Breda. Pagano befasste sich mit der äußeren Form, also mit dem Oberbau und der Aerodynamik, Ponti setzte sich mit dem Innenausbau der Waggons auseinander. Die üblichen Abteilungen der Passagierzüge schaffte er ab und stattete die Waggons mit komfortablen und einstellbaren Einzelsitzen aus, deren Bezüge verschiedene Farben erhielten. Die luxuriöse «erste Klasse» war zum Beispiel komplett in Grün gehalten. Er brachte Lösungen und Anregungen hervor, die im Transportwesen nicht neu waren. Für die gehobene Kundschaft wurden schon vor der Jahrhundertwende individuelle Innenausstattungen von Eisenbahnwaggons realisiert. Naheliegend ist es, dass Ponti seine Erfahrung aus der Malerei und der Keramikindustrie einbrachte, um seine Transportmittel-Interieurs fortlaufendend weiterzuentwickeln. Insbesondere arbeitete er nicht in der Abgeschlossenheit einer jeden einzelnen Anfertigung, gerade deshalb ließ er sich dauernd neu anregen und übernahm womöglich auch aus seinen eigenen Texten Gedanken zur Gestaltung der verschiedenen Gasträume. Fasziniert war Ponti auch von der Seefahrt, wie man anhand des Domus-Hefts vom März 1933 erkennen kann, dessen größter Teil dem Schiffsbau gewidmet war. Unter dem Titel Una nave, Ein Boot teilte Ponti dem Leser mit, wie kompliziert es sei, ein Interieur für einen Passagierdampfer fehlerfrei zu planen. Denn in der Innenausstattung solcher Ozeanriesen sollte praktische Benutzbarkeit, perfekter Komfort und elegante Atmosphäre zwingend harmonieren. Im Kreuzfahrtschiff Conte di Savoia wie im Eisenbahnwagen Breda ETR 200 «velocissimo» spiegeln sich die unterschiedlichen Buchungsklassen in verschiedenen Farbkombinationen der Räume. Für die Analyse der räumlichen Disposition aller differenzierten Gästekategorien liegt eine Gegenüberstellung mit dem Hotel Paradiso nahe. Weshalb sollten dieselben Überlegungen, die damals für das Transportwesen galten, nicht auch im Hotelbau angewendet werden können?
Vermutlich ließ sich Ponti vom Aufbau dieser hochkomplexen «Maschinen» inspirieren. Er übertrug auf das Hotel Paradiso was er bei der Entwicklung der Massentransportmittel wahrgenommen hatte, vor allem die Sortierung in einzelne Zielgruppen. Pontis Ziel war möglicherweise die Gestaltung einer «neuen Bergunterkunft» für die damals propagierte «kollektive» Gesellschaft, die jedoch ihre sozialen Schichten klar voneinander trennte. In der Hotelarchitektur ist dies ein neuartiger Umgang mit den Besuchern. Aus mehreren Plänen des Hotels Paradiso und handschriftlichen Anmerkungen auf diesen wird ersichtlich, wie Ponti bei jeder neuen Entwurfsvariante die Zirkulation der Gäste verschiedener Kategorien von den Eingängen zu den Gemeinschaftsräumen und allen anderen hausinternen Wegen zu koordinieren versuchte.
Ponti bezeichnete das Paradiso als «neue Bergunterkunft», denn keiner seiner europäischen Arbeitskollegen hatte vorgesehen, in ein und demselben Hotel alle Klassen unterzubringen. Als Ausnahmen sind zu erwähnen Vittorio Bonadè Bottino, der in Sestrière zwischen 1933/34 zwei Turm-Hotelbauten errichtete, um alle Bedürfnisse der verschiedenen Zielgruppen angemessen befriedigen zu können, und Franz Baumann, der sowohl im Hotel Seegrube (Innsbruck, 1928) wie auch im Hotel Monte Pana (Südtirol, 1930) in den oberen Geschossen Zimmer für eine bescheidene Bergkundschaft mit einem Gemeinschaftsbad und im Dachgeschoss ein Matratzenlager einrichtete.
Individuelle Hotelzimmer für eine bürgerliche Schicht mit höherem Komfort und dazugehörigem Privatbad wurden von Baumann nicht in Erwägung gezogen. Er konzipierte ausdrücklich einfache Räume für Skifahrer und Bergsteiger. Hotels für Sportzwecke wurden hauptsächlich von seinen Zeitgenossen errichtet, was die Berghotellerie der damaligen Zeit europaweit expandieren ließ. Das Interesse der in den Zwischenkriegsjahren tätigen europäischen Architekten richtete sich auf das Gleichgewicht der Gesellschaft und den Einbezug sozialer Aspekte in allen Bereichen. Demonstrative Luxusausstattungen sollte der Vergangenheit angehören. Dies galt nicht für Ponti und nicht für die politische Realität Italiens. Ponti entwickelte ein Hotel, das allen Gästewünschen genügen sollte, dem Bürger mit dem Bedürfnis nach Erholung und dem Sportler mit dem Bedürfnis, alle umliegenden Gletscher zu erklimmen – alles unter einem Dach.
Hotelbau: Was erwartet der Gast von morgen?