Society | Tagebuch aus Alpbach

Der Krieg und ein neues Europa?

Sind wir am Morgen des 24. Februar 2022 in einem neuen Europa aufgewacht? Angekommen sind wir dort noch nicht. Notizen aus Alpbach von Hannes Pichler.
guerra ucraina
Foto: atlantic council
Sind wir am Morgen des 24. Februar 2022 in einem neuen Europa aufgewacht? Das ist die Frage, die mich seit dem ersten Tag auf dem diesjährigen Alpbach-Forum umtreibt. Schließlich prangt in Alpbach von allen Seiten das Jahresthema des heurigen Forums: The New Europe - Das neue Europa. Für die Veranstalter des Forums scheint die Sache klar zu sein. Weniger eindeutig ist das bei den vielen Referenten und jungen Teilnehmern am Europäischen Forum. 
Klar scheint nur eines: Der Krieg in der Ukraine hat uns jungen Europäer wachgerüttelt. Das wird in Alpbach in jeder einzelnen Veranstaltung deutlich. Es gibt praktisch kein Gespräch, in dem der Angriff Russlands auf die Ukraine und die schrecklichen Konsequenzen des Krieges nicht thematisiert werden. Denn sie berühren alle großen Themen unserer Zeit: Unsere Sicherheit, die existenzielle Klima- und Energiefragen, Wirtschafts- und Handelsfragen und die Resilienz unserer demokratischen Gesellschaften. Zudem sind viele junge Ukrainerinnen und Ukrainer angereist, um über den Krieg in ihrer Heimat zu berichten und für Unterstützung zu werben. Beeindruckende Personen, die mit viel Mut und Kraft für ihr Land kämpfen.
 
 
Weniger sicher bin ich mir, ob wir im Westen die Dimension des Krieges wirklich verstanden haben und langfristig die richtigen Konsequenzen daraus ziehen. Viel zu oft haben wir schon in den vergangenen Jahrzehnten davon gesprochen, dass Europa gestärkt werden muss, dass die EU einheitlich zusammenstehen und geopolitischer agieren muss. Aber bisher ist das in vielerlei Hinsicht Rhetorik geblieben. Darauf hat in Alpbach auch der Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Joseph Borrell, hingewiesen. Viel zu lange seien wir naiv gewesen und unwillig, die harten Realitäten in unserer Nachbarschaft anzuerkennen. Er selbst war sichtlich zufrieden, wie „seine“ EU auf den Krieg in der Ukraine reagiert hat. Wie wir die EU jetzt aber konkret und nachhaltig schlagkräftiger machen können, dazu konnte Borrell in Alpbach leider wenig beitragen.
Kritischer blickte der renommierte US-Historiker Timothy Snyder auf das europäische Handeln. Für ihn steht Europa vor einem Schicksalsmoment. Seine zentrale Aussage: Wenn wir jetzt nicht alles tun, um die Russen in der Ukraine zu besiegen, kommen die Dämonen der Vergangenheit auf den europäischen Kontinent zurück: Imperialismus, Kriege, Konflikte und Zerstörung. Wie schon im Zweiten Weltkrieg, als die Ukraine zusammen mit Belarus im Zentrum des Vernichtungskrieges stand, werde auch heute – so Snyder - die Schlacht zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Demokratie und Autoritarismus in der Ukraine geschlagen. Für ihn ist dabei klar: Europa hat diese Dimension des Krieges noch nicht umfassend verstanden und unterstützt entschieden zu wenig. Vor allem die deutsche Bundesregierung kritisiert der Historiker stark für das zögerliche Handeln. Es sei eine einmalige historische Chance, die Verbrechen der Vergangenheit in der Ukraine wieder gut zu machen, wenn Berlin jetzt Kiew entschieden unterstütze. Es verärgert ihn sichtlich, dass das nicht geschehe.
 
 
 
Apropos verärgert und enttäuscht: Wie sieht das „neue Europa“ eigentlich auf dem Balkan aus? Nun, die Vertreter aus Serbien, Montenegro, Albanien, Kosovo und Nordmazedonien spüren bisher wenig davon. Sie hoffen seit bald zwei Jahrzehnten auf eine Aufnahme in die Europäische Union. Die Gespräche und Verhandlungen dazu gehen nicht voran. Einige der Länder des Westlichen Balkans haben weiterreichende Reformen unternommen und sind trotzdem am ausgestreckten Arm der EU verhungert. Die öffentliche Stimmung hat sich teilweise stark gegen Europa gedreht und Länder wie Russland und China haben deutlich an Einfluss gewonnen. Ein „neues Europa“ müsste hier dringend handeln und eine ernsthafte Initiative starten, diese Länder zu integrieren. Denn nach außen hin können wir nur dann stark sein, wenn wir in der Mitte Europas keine offenen Flanken für Einflussnahme und Konflikte zulassen. So viel geopolitisches Denken muss sich die EU jetzt zutrauen.
Wie steht es also um das Neue Europa? Die Conclusio aus Alpbach: Angekommen sind wir dort noch nicht. Wir können es jetzt aber gestalten. Packen wir es an – und machen es zu einem besseren Europa!