Chronicle | aus dem Blog BERLUSCONTEXT

Berlusconis Emotionsführerschaft

Berlusconi hin, Berlusconi her. Heute genauso virtuos wie jeden Tag seit bald zwanzig Jahren gelingt es der Person, die länger als alle anderen Italiens Regierungs- bzw. Oppositionschef war, vor allem von sich reden zu machen statt von Italiens Problemen (die auch deshalb immer schwerer lösbarer erscheinen). Was ist das "Misserfolgsgeheimnis" dieses Phänomens? Mauro Calise ist der erste italienische Politikwissenschafter, mit dem ich mich dazu auseinandergesetzt habe.
Mauro Calise ist Professor der Politikwissenschaften an der Universität Neapel, und hat auch in Paris sowie an der Cornell University gelehrt; an der Universität Chikago ist er Co-Autor von „Hyperpolitics, an interactive dictionary of political science“; er war Vizepräsident der International Political Science Association (IPSA) und Vorsitzender der italienischen Gesellschaft für Politikwissenschaften. Er betrachtet den Berlusconismus als die Speerspitze des Phänomens der Personalisierung, der „Verkörperlichung“ der Politik, als ihr „Fleischwerden“.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

CALISE, Mauro: Il partito personale. I due corpi del leader, Ed. Laterza, Bari (2000), nuova edizione ampliata 2010. „Die persönliche Partei. Die zwei Körper des Leaders“.

Calise stellt weltweit ein „wachsendes Bedürfnis nach einem direkten Draht zwischen Volk und Führer“(leader) fest. Der Berlusconismus spiegelt zwei Schlüsselfaktoren der globalen Postmoderne wider: narzißtischer Individualismus, und „Triumph des Medienspektakels“ auch in der Politik. Vom Parteienstaat zur Persönlichkeitspartei, vom Vorsitzenden des Ministerrats als primus inter pares, der vom Parlament und anderen Institutionen kontrolliert wird, zurück zum monokratischen dominus, der nicht nur die Regierung und das Parlament beherrscht, sondern auch, mit überlegenen Finanzen aber auch Motivationen, die Aufmerksamkeit, die Erwartungen, die Stimmungen und die Emotionen der Bevölkerung seit 20 Jahren mit modernsten Mitteln managt, manipuliert und monopolisiert, bis zur absoluten Themen- und Emotionsführerschaft.

„Die zwei Körper des Leaders“, wem dieser Untertitel auf den ersten Blick auffällig bis mittelalterlich vorkommt, der hat recht: Es ist die Studie zur politischen Theologie des Mittelalters „Die zwei Körper des Königs“ von Ernst H.Kantorowicz, die hier Pate steht. Demnach hat der König, sagen wir der Führungsmensch, nicht einen, sondern zwei Körper, einen natürlichen, sterblichen, und einen politischen, unsterblichen. Diese erste Trennung zwischen Amt und Person, mit einer möglichst unpersönlichen, quasi „körperlosen“ Amtsführung, haben dann die aufklärerischen Verfassungsvordenker weiterentwickelt, festgeschrieben und verinnerlicht.

Aber die heutige Verfassungwirklichkeit sieht anders aus, lässt das überholt erscheinen, meint Calise. Er konstatiert einen „unerhörten“ Niedergang der „körperlosen“ Ausübung von Macht und Verantwortung in rein kollektiven „Körperschaften“, gemäß dem rechtlich-rationalen Credo Max Weberscher Prägung. Calise plädiert, den Soziologen Günther Roth zitierend, für eine realistischere, höhere Einschätzung der persönlichen Macht gegenüber der rule of law. Wenn wir hingegen Rationalität und Rechtsstaatlichkeit absolut setzen wie ein Korsett, in das alle menschlichen Lebenswelten zu zwängen sind, so interpretiere ich Calise, dann trifft uns der Wandel und die Unberechenbarkeit der realen Machtausübung im dritten Millennium  unvorbereitet und verständnislos; dann übersehen wir, dass die Verpersönlichung politischer Macht nicht nur Gefahren, sondern auch Aussichten auf mehr Wirklichkeits-, Lebens- und Bürgernähe mit sich bringen kann.

Diesen globalen Kontext hat Berlusconi nach Calise intuitiv verstanden und vor unvergleichlich besser zu nutzen gewusst als seine Gegner und Rivalen. Das ist das Erfolgsgeheimnis seiner politischen Langlebigkeit des Phänomens: Eine gezielt marktschreierische, hochprofessionell betriebene Befriedigung tiefer Bedürfnisse nach Verkörperung der Macht in einem einzigen Hoffnungsträger und Traumförderer.

Darf man so einer Persönlichkeit, der man das Charisma eines Übermenschen und Heilsbringers zuschreibt, Grenzen setzen? Mag ihn eine irdische Rechtsprechung, die nach Darstellung des Angeklagten und seiner Anhängerschaft nur befangen sein kann („justizialistisch“, wenn nicht gar kommunistisch oder feministisch), noch so „letztinstanzlich“ verurteilen, an seine irdischen Grenzen stößt ihn, irgendwann, nur die Sterblichkeit seiner irdischen Hülle.

Was an diesem Buch originell, aber auch ein wenig befremdlich wirken mag, ist einerseits die zentrale, ja tiefe Bedeutung, die  Calise in seiner Wortwahl der Körperlichkeit in der Politik, dem „Körper des Führers“, beimisst. Und zweitens noch mehr der etwas allzu verallgemeinernd vermittelte Eindruck, fast überall in der demokratischen Welt sei eine mit Italien vergleichbare Abwendung von rechtlich-rational geprägten Verfassungen und Hinwendung zur Personalisierung und Verkörperlichung der Politik in Gang wie unter Berlusconi.