Culture | Salto Afternoon

Kein Entkommen von der Realität

Heute Abend beginnt in Meran Docu.emme, eine kuratierte Auswahl an Dokumentarfilmen der Jahre 2021 und 2022, die heterogen und spannend ist. Zum Auftakt zeigt man „Flee“.
Flee
Foto: Screenshot - Vice Studios
Der Dokumentarfilm von Jonas Poher Rasmussen ist, was sein Genre anbelangt, ein ungewöhnlicher, größtenteils mit Animationen realisierter Film. Gleich zu Beginn - nach zahlreichen am Projekt beteiligten Firmenlogos und Auszeichnungen - wird uns mitgeteilt, dass dies ein wahre Geschichte ist, Namen wurden geändert um die Mitglieder des Casts zu schützen. Auch der Erzählstil, der auf Videoaufnahmen - mit einer schönen Ausnahme gegen Ende des Films- lediglich aus dem Archiv zurückgreift, dient diesem Schutz, erfüllt aber gleichzeitig eine zweite Funktion: Er markiert das Geschehen in seiner Mündlichkeit durch verschiedene Stile. Schade, dass in Meran die (gute) italienische Synchronfassung und nicht wie bei anderen Programmpunkten eine Version mit Untertiteln zu sehen ist, da sie einen Grad weiter vom Protagonisten entfernt ist, der ja schon in gezeichneter Form abstrahiert ist.
Es bleiben als Bindeglied zur dokumentarischen Realität, die oft diegetisch, als auf Ebene der Erzählung, in den Film eingearbeiteten Aufnahmen aus dem Archiv, welche etwa eine Fernsehansprache fast nahtlos vom animierten Hintergrundbild zur Aufnahme übergehen lassen und uns mit besonderer Wucht treffen. Sie erinnern uns immer wieder daran, dass was wir sehen und hören abstrahiert, aber dennoch real ist.
Unser Protagonist ist gleichzeitig Erzähler: Amin Nawabi, der wohl nicht so heißt, ein Mann Mitte 30, der als Minderjähriger unbegleitet nach Dänemark geflohen ist. Den in den Retrospektiven traumhaft abstrahiert gezeichneten Passagen steht in der Gegenwart ein etwas rudimentärer, geerdeter Animationsstil gegenüber, aus welchem heraus auf Basis von Interviews eine Fluchtgeschichte nachgezeichnet wird. Die Animation ermöglicht dabei zu erzählen - im Sinne einer Geschichte, mit einer Intensität die über jene eines Zeitzeugen-Berichts hinausgeht - wozu es auf Bildebene keine Entsprechung gäbe: Ein Nachtmarsch über die Grenze, das Innere eines Flüchtlingsbootes, aber auch etwa das Verhalten korrupter Polizeibeamter im Russland nach dem Fall der Sowjetunion, wo Amins Fluchtgeschichte Station gemacht hat.
Es ist eine Geschichte, die nur in dieser Form hätte erzählt werden können und durch welche die Institution des Kinos etwas reicher ist. Hier wird nicht nur von gnadenlosen Schleppern und Beamten, Fremdenfeindlichkeit und der Ausrufung des Islamischen Staates Afghanistan 1992 erzählt, es finden sich auch hoffnungsfrohe Minuten und eine Botschaft der Akzeptanz.
 
 
Kasper ist der Partner Amins, die Beziehung der beiden Männer wird, auch durch das Trauma des Afghanen auf die Probe gestellt, der Ausblick dieser Filmabschnitte ist allerdings in Summe ebenso hoffnungsvoll, wie es die frühen Kindheitserinnerungen Amins sind. Am Ende ist die im 21. Jahrhundert einzig richtige Botschaft, die man erzählen kann auch eine tröstliche und einfache: omnia vincit amor.
Ein wichtiger Animations-Film der auch Widerstandsarbeit gegen das hartnäckige Vorurteil leistet, dass sich „Zeichentrick-Filme“ nur an Kinder richten, für welche sich der Film auf Grund einiger realer Aufnahmen mit Kriegsgräueln wohl nicht eignet. Sehenswert.
 

Das Programm

 
Im wie bereits erwähnt abwechslungsreichen Programm von Docu.emme folgen, immer Mittwochs, immer mit Beginn um 20.30 Uhr im Kulturzentrum Mairania 857 und bei freiem Eintritt: „Brotherhood“ am 9. November (Francesco Montagner, 2021, ’97, Original mit italienischen Untertiteln), von Jabir, Usama und Useir, drei Bosnischen Brüdern in einer radikal-islamischen Schäferfamilie; „Soldat Ahmet“ am 16. (Jannis Lenz, 2021, 76’, in deutscher Sprache) über einen Sohn Türkischer Einwanderer, gleichzeitig Boxer und Soldaten beim Österreichischen Bundesheer; „Girl Gang“ am 23. (Susanne Regina Meures, 2022, 98’, in deutscher Sprache), der den Arbeitsalltag und die Familienkonstellation der 14-jährigen Influencerin Leonie kritisch beleuchtet; „River“ am 30. (Jennifer Peedom 2021, 75’, Original mit italienischen Untertiteln), ein Naturfilm über die Beziehung Mensch-Fluß auf sechs Kontinenten, u.a. mit Radiohead und dem Australian Chamber Orchestra vertont; Der Zelig-Abschlussfilm „Dedalo“ am 7. Dezember (Chiara Capo, Giordano Di Stasio und Paul Schullian, 2022, 48’, in italienische Sprache), erzählt in Genua anhand dreier Beispiele von Schwierigkeiten mit Anfang 30 eine Stimme und einen Weg zu finden und von Umwegen in Eskapismus; zuletzt, am 14. Dezember „Liebe, D-Mark und Tod“ (Cem Kaya, 2022, 98’, in Originalsprache mit deutschen Untertiteln), der die Stimmen Deutsch-Türkischer Musiker einfängt und eine Zeitgeschichte des Zusammenlebens und von dessen Problemen erzählt.
Man sieht, dass sich hier allerhöchstens ein „andernorts“ als roter Faden zwischen den Dokumentarfilmen feststellen ließe. In Südtirol, wo die Berge nach wie vor nicht weit sind, bleibt eine Erweiterung des Horizonts wichtig.