Culture | Salto Weekend

Mysteriöses in den Bergen

Sie gehört mehreren Minderheiten an, schreibt, und ist „Brückenbauerin“ zwischen den Kulturen. Den Tiroler Tatzelwurm hat sie literarisch in die Ukraine gebracht.
Lehrerin für Ukrainisch
Foto: Lykovych

Zwischen Minderheit und Mehrheit
Iryna Lykovych ist in Batrad, einem Dorf mit 500 Einwohnern in der Nähe von Berehowe aufgewachsen, einer Kreisstadt im Westen der Ukraine. Ihr Heimatdorf liegt drei Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt. Die Frage nach ihrer Identität stimmt sie nachdenklich.
Im Gebiet Berehowe (Rajon Berehowe), einst Teil der österreichischen Monarchie, ist die ungarische Minderheit mit 90% in der Mehrheit. Hier ist Iryna aufgewachsen. Als Au-pair-Hilfe kam sie vor knapp einem Jahrzehnt nach Tirol. Es war die einzige Möglichkeit nach Österreich zu gelangen, um dann von hier aus die Dokumente für die Universität in Wien zu hinterlegen. Hätte sie das von der Ukraine aus machen wollen, wären satte 7000 Euro nachzuweisen gewesen, also der Nachweis, dass man ohne zu arbeiten ein Jahr „überleben“ kann.
Vorher engagierte sich Iryna als Journalistin, zog von ihrem Studienort Uschhorod nach Odessa, wo sie in der Kulturredaktion mitarbeitete, Bücher rezensierte und über Ausstellungen und Lesungen berichtete. Sie arbeitete bei der einzigen ukrainischen Zeitung in Odessa, wo sie miterleben musste, wie Menschen aggressiv werden, wenn sie jemanden hören, der nicht Russisch spricht. 

Wolfskinder und Tatzelwurm
Auf Vermittlung der Schriftstellerin Ann Cotten las Iryna Lykovych vor einigen Jahren in Bozen, unter anderem aus ihrem Roman Der Tatzelwurm, eine Tiroler Geschichte, in welchem sie sich mit dem Thema der sogenannten Wolfskinder auseinandersetzte. In der Ukraine gab es beispielsweise den skurrilen Fall Oksana Malaja, einem Mädchen, das mit Hunden aufwuchs. "Immer wieder passiert es in der Ukraine", sagt sie, "dass Kinder von den Eltern vernachlässigt werden und sich häufig anderen obdachlosen Kinder anschließen, es sind Kinder die verwildern und wie streunende Hunde aufwachsen."
Die Geschichte der Wolfskinder hat Iryna berührt, dass sie – über das Buch Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen inspiriert – kurzerhand einen tatsächlichen Fall für die fiktive Handlung ihres Romans nach Tirol verlegte. Mit dem Buch hat sie in ihrem „Heimatland“ zwei große Auszeichnungen gewonnen und landete auf der BBC-Longlist.

In der Ukraine besteht eine literarische Tradition, dass das Schreckliche immer in den Bergen passiert, es passiert immer was Mysteriöses in den Bergen.

In Wien begann Iryna Slawistik zu studieren, besuchte und organisierte Veranstaltungen der ukrainischen Gemeinschaft, arbeitete als Sprach- und Literaturlehrerin und schrieb für die ukrainische Zeitschrift in Österreich.

Zunächst hatte ich nur die ukrainische Staatsbürgerschaft. Jetzt habe ich auch die ungarische Staatsbürgerschaft angenommen und konnte so, nach dem Abschluss meines Studiums, in Österreich bleiben.

Mit der neuen Staatsbürgerschaft durfte sie in Wien bleiben und arbeiten. Heute sieht sie sich als Gewinnerin, spricht mehrere Sprachen und möchte sich verstärkt dem Bereich Literatur widmen. Trotz ihrer ungarischen Staatsbürgerschaft, ist sie in Wien Teil der ukrainischen Minderheit, einer Community die geteilt scheint, da es jene gibt die eine Arbeitserlaubnis haben und öffentliche Veranstaltungen besuchen, und jene die illegal in Wien sind, Menschen die numerisch nicht festgehalten werden, zurückgezogen leben und keine sozialen Kontakte pflegen.

Europäerin
Iryna Lykovych konnte an ihrem frühen literarischen Erfolg nicht anknüpfen. Vor einem Jahr hat sie erneut einen Roman verfasst, welcher die Ghettos der Ukrainer im Westen beschreibt und jenen Menschen eine Stimme gibt, die ohne Job, dennoch ihr Leben durchbringen. In ihrem Manuskript geht sie der Frage nach, weshalb Menschen zu Migranten werden. Doch das was sie niederschreibt, will in der Ukraine niemand lesen. Die Verlage lehnten ihr Manuskript ab und meinten:

Wir brauchen was Optimistisches oder Heroisches. Das verkauft sich besser.

Iryna hat zudem Teile des bekannten Bildungsromans Der Hals der Giraffe (Suhrkamp) ins Ukrainische übersetzt, schaffte es damit in Literaturzeitschriften, doch es gibt keine Finanzierung für das Übersetzungs-Projekt.  Mittlerweile schreibt sie Gedichte, in deutscher Sprache. Und wieder sind es verwahrloste Kinder, Wolfskinder des Westens, Kinder am Rande der Wohlstandsgesellschaft. In Wien.

 


Eylül
Eylül, auf Deutsch  – September. Geboren im Frühling,
dick eingepackt in die stinkenden Lumpen von der Schwester.
Verliert sie – kriegt sie Wutattacken,
na ja, deswegen spielt sie lieber alleine,
diese kleine Eylül, die niemand versteht.
Man darf sie nicht anschauen,
sonst plärrt sie und schmeißt sich oder die Bausteine gegen die Wand.
Und wenn sich mal doch so was wie ein Gespräch ergibt,
dann sagt sie nur yes, Spongebob
und noch ein paar Wörter aus dem Fernsehen,
die kleine Eylül, die niemand ansieht.
Eylül versteht kein deutsch.
Eylül redet nicht türkisch.
Sie sagt nur yes, Spongebob und noch ein paar englische Wörter.
Und sonst, wenn sie sich unbeobachtet fühlt,
streift sie im von Spielzeugen vollen Raum herum,
murmelt  vage die Silben vor sich hin
und weiß  nicht wonach  sie sucht,
die kleine Eylül, Vorschulkind in ihren stinkenden Lumpen.

(AUSZUG: MEIDLING)

 

Alltag und Literatur
Iryna Lykovych arbeitet heute in verschiedenen Bildungseinrichtungen, geht Tag für Tag in Kindergärten und motiviert Kinder mit Migrationshintergrund zum Sprechen. „Ich bin immer wieder empört“ sagt sie „wie schlecht die Menschen über Flüchtlinge sprechen. Die Einheimischen wollen, dass die Leute sich sofort integrieren, aber das geht nicht.“
Bei den Wahlen in Österreich darf sie (noch) nicht ihre Stimme abgeben. Dessen ungeachtet träumt sie davon, die vielen Stimmen der ukrainischen Gegenwartsliteratur, im deutschsprachigen Raum bekannter machen.