Reform zwischen Hoffen und Bangen
Wir haben einen ungemein heftigen Wahlkampf zur Verfassungsreform erlebt, mit der Zuschreibung von ruinösen Zukunftsszenarien im Falle des Erfolgs des jeweiligen Gegners, gegenseitigen Anschuldigungen und ausfälligen Bemerkungen. Es ist gut, wenn er zu Ende geht. Was bleibt bei den Menschen hängen als verlässliche Information und als gültige Perspektive? In erster Linie eine große Unsicherheit bei vielen, welche Entscheidung nun gut für das Land ist. Konsolidierte allgemeine politische Meinungen und Denkkategorien bei jenen, die eher den Befürwortern/-innen oder den Gegnern/-innen Glauben schenken, und mehr auf der Suche nach Bestätigungen für ihre Position waren. Manche werden ihre Entscheidung auf die Abgrenzung zu den politischen Statements bestimmter Exponenten/-innen stützen oder auf die Aversion gegen Allesversprechern/-innen und Besserwissern/-innen jeglicher Couleur. Es prasseln so viele Meinungen und Stellungnahmen auf die Leute ein, dass sie den Werdegang der Verfassungsreform nicht mehr in Erinnerung haben und ihnen die politisch-taktischen Positionswechsel verschiedener Politiker/-innen nicht auffallen.
Demokratie gewährleistet Dialektik, nicht Wahrhaftigkeit
Die Demokratie gewährleistet zumindest, dass Informationen zuhauf vermittelt werden. Diese werden aber kaum auf ihre tatsächliche Konsistenz überprüft. Aufmerksamkeit erregen und beeindrucken tun in erster Linie emotionale Auftritte der politischen Vertreter/-innen – und die sind darin zum Teil Profis mit der Fähigkeit, alle Tasten der emotionalen Klaviatur zum Klingen zu bringen. Kurioserweise werden Misstöne und ausgefallene - wenn nicht ausfällige - Auftritte inzwischen bewusst als Aufmerksamkeitserreger eingesetzt und von den Menschen und der Öffentlichkeit als bemerkenswerte und aufrüttelnde Teile der Partitur empfunden. Anderen liegen diese Showeinlagen weniger. Sie versuchen, durch Souveränität, sachliche Argumentation und Appelle an vernunftmäßig nachvollziehbare Überlegungen und konsequente Folgeschlüsse das Wahlvolk zu überzeugen. Und es gibt die Polterer und Schreihälse, aber auch die coolen Politprofis, die es nur darauf anlegen, alles in Frage zu stellen, die Unsicherheit auf die Spitze zu treiben, Unruhe zu stiften und den Gegner (immer mehr auch in den eigenen Reihen) zu desavouieren.
Wem Vertrauen schenken in einem aus dem Ruder gelaufenen Wahlkampf?
Als Bürgerinnen und Bürger sind wir schlussendlich mehr darauf angewiesen, ein Gespür dafür zu entwickeln, wem wir Vertrauen schenken können. Das ist schwierig bei der Fülle an Informationen und völlig konträren Schilderungen der Inhalte und der Folgen des Verfassungsreferendums. Wir fragen also Freunde und Bekannte, sondieren die Meinungen im Umfeld, sind an der Meinung von Menschen interessiert, die wir als ausgewogene und bedachte Persönlichkeiten einschätzen. Wir sehen Diskussionssendungen, lesen Artikel in den Zeitungen und im Internet und nehmen die Informationen auf, haben aber stets zugleich die Antennen eingeschaltet, mit denen die Stringenz der Argumentation, emotionale Echtheit, Glaubwürdigkeit und psychophysische Präsenz gemessen und bewertet werden. Vertrauen wird jedenfalls zu einem wesentlichen Faktor für die persönliche Entscheidung, und zwar ein Vertrauen, das auf einer emotionale Bindung zu der oder der anderen Persönlichkeit beruht, der es gelungen ist, einen emotionalen Zuspruch zu aktivieren, der letztlich die eigene Positionierung prägt.
Argumente für das Ja…
Das Fazit meiner Überlegungen ist, dass es gewichtige Argumente für das Ja gibt. Erstens: Was zu Beginn des Reformprozesses im Parlament allgemeiner Konsens war, hat auch jetzt Gültigkeit: Das sog. perfekte Zweikammersystem, 1948 als wechselseitiges Kontrollinstrument konträrer politischer Lager eingeführt, muss aufgelöst werden, indem die Gesetzgebungsbefugnis weitgehend der Abgeordnetenkammer zuerkannt und somit beschleunigt wird. Zweitens: Die 2001 eingeführte konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis der Regionen zu einer langen Liste von Bereichen konnte ohne weitere Präzisierung des Zusammenwirkens von Staat und Regionen nicht funktionieren. Diese Situation der Unbestimmtheit hat zu ausufernden Gesetzgebungskonflikten zwischen diesen beiden Ebenen geführt. Teilweise ist nach der Reform von 2001 die Dezentralisierung von den Regierungen nicht beachtet und vom Verfassungsgerichtshof sehr restriktiv interpretiert worden. Nun werden die konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnisse abgeschafft und die entsprechenden Bereiche der staatlichen Gesetzgebung vorbehalten. Drittens: Mit der Schutzklausel erhalten die Regionen mit Sonderstatut eine Einvernehmensgarantie im Hinblick auf die Überarbeitung derselben. Damit wird u.a. für Südtirol und das Trentino die Anwendung der neuen Kompetenzzuordnung und des Durchgriffsrechtes des Staates, u. a. zur Sicherstellung einheitlicher gesetzlicher und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen auf gesamtstaatlicher Ebene ausgesetzt.
…mit Nachbesserungsbedarf
Diese Reform leitet grundlegende Schritte für eine funktionale und effiziente Regierungsarbeit ein. Fachleute haben allerdings Zweifel an der juridisch-technischen Schlüssigkeit der neuen normativen Struktur in Bezug auf die Zuordnung der gesetzgeberischen und Verwaltungskompetenzen sowie hinsichtlich der erforderlichen Mehrebenen-Governance geäußert, auch im Hinblick auf die Rolle der Regionen innerhalb der EU. Somit steht bereits fest, dass weitere Anpassungen erforderlich sind. Diese sollten ehestens definiert werden, damit die gesamte Kompetenzstruktur eine organische Logik erhält. Dabei müssen insbesondere die Kooperationsmechanismen genaue Konturen erhalten, sei es im Hinblick auf die Funktionalität des gesamten Systems sei es zur weitgehenden Vermeidung bzw. Reduzierung von Kompetenzkonflikten. Richtlinienkompetenz und Subsidiaritätsprinzip sollten die grundsätzliche Ausrichtung bestimmen anstatt einer Zentralisierung, die den unterschiedlichen Anforderungen der Territorien nicht gerecht werden kann. Es wäre für den Zentralstaat sehr aufwändig, auf regionale Besonderheiten einzugehen, und zudem schwierig, hierfür die Kriterien einwandfrei festzulegen.
PD muss Staats- und Autonomiemodelle abklären
Ob diese Präzisierungen im Geiste einer Kooperation zwischen Staat und Regionen oder mit dem Ziel der Durchsetzung von Machtkonzentration und populistisch aufgepeppten staatlichen Durchgriffsrechten erfolgen werden, ist noch offen. Fakt ist, dass der Staat und seine Behörden bisher gesetzgeberisch, verwaltungsmäßig und jurisdiktionsmäßig nicht imstande waren, offensichtliche Missstände in einigen Regionen zu beheben. Das wird u. a. auf die Abschaffung der Kontrollmechanismen zu den regionalen Gesetzen und Verwaltungsakten im Zuge der Reform von 2001 zurückgeführt, hat aber eine darüber hinausgehende politische Verantwortungsdimension. Fakt ist auch, dass der PD von der damaligen Unterstützung eines dezentralen Ordnungsrahmens nun auf einen strikten Rezentralisierungskurs umgeschwenkt ist, dessen Durchsetzungsimpetus in den Stellungnahmen bedeutender Repräsentanten/-innen mitunter recht unverhohlen zum Ausdruck gekommen ist.
Augenscheinlich sind die Unschärfen im aktuellen Entwurf zur Verfassungsreform nicht nur auf mehrhändige Autorenschaft, sondern auch auf einen unausgereiften Diskussionsprozess innerhalb der Regierungskoalition und des PD selbst zurückzuführen. In diese Gemengelage spielt auch die Gewohnheit hinein, staatspolitische Konzepte nicht stringent durchzudeklinieren, sondern diesen mit individuellem Geltungsbedürfnis und dem Anspruch kreativer Phantasie und grenzenloser Verhandlungsmargen Einzigartigkeit jenseits der erwartbaren Funktionalitätsansprüche zu verleihen. Heraus kommt jene Unverbindlichkeit, die den politischen Machenschaften Tür und Tor öffnet und allenfalls den Anwaltskanzleien Sicherheit bietet, nämlich eine endlose Schleife an Rechtsstreitigkeiten.
Zuspitzung des Konflikts zwischen Regionen mit Normal- und Sonderstatut
Die Diskussion zur internen Organisation des Staates sollte sich entlang der Modelle für Zentralisierung und Dezentralisierung, für eine zweckmäßige horizontale und föderative Gewaltenteilung entwickeln. Die vorgesehene Möglichkeit der Ausweitung dezentraler Befugnisse für Regionen, die einen ausgeglichenen Haushalt aufweisen, bringt sachfremde Elemente ins Spiel. Rechtlich wie politisch verläuft die Konfliktlinie jedoch vor allem zwischen den Regionen mit Normalstatut und jenen mit Sonderstatut. Die Ausnahmeregelung, die Regionen mit Sonderstatut bis zur Überarbeitung derselben davor bewahrt, dass auf sie die neue Zuordnung der Kompetenzen und das Durchgriffsrecht der Regierung angewendet wird ist aus Südtiroler Sicht wertvoll, weil das Einvernehmen als hochwertiger Schutzfaktor einzustufen ist. Gleichwohl könnte der Staat nach dem Urteil von Experten/-innen im Zuge der gesetzgeberischen Tätigkeit die autonomen Kompetenzen Südtirols einschränken, wie dies auch in den letzten Jahren immer wieder der Fall war. Auch die Entwicklung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu dieser neuen Konstellation ist nicht absehbar. Deshalb sind Anstrengungen angebracht, um die bestehenden Kompetenzen zu nutzen und die Bemühungen um die Rückgewinnung, den weiteren Absicherung bzw. den Ausbau autonomer Kompetenzen voranzutreiben.
Faire Kooperation als Perspektive für alle Regionen
Aus politischer Perspektive ist die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass die stärkere Anbindung der Regionen mit Sonderstatut bzw. deren Gleichschaltung mit den Regionen mit Normalstatut eines der vorrangigsten Ziele der Reformarchitekten darstellt und in der römischen Parteienlandschaft und in der breiten Öffentlichkeit auf dezidierten Zuspruch setzen kann. Zielscheibe des Durchgriffsrechts sind vor allem Regionen mit sehr problematischen Gesetzgebungs- und Verwaltungspraktiken wie Sizilien und Kampanien. Ungleichheit stößt sauer auf in Zeiten großer wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Während Sizilien weiterhin unbehelligt bleibt, trifft die Verfassungsreform Kampanien voll, wenn sie durchgeht. Ohne weitere Differenzierung zu den Voraussetzungen unserer Autonomie und dem Zusammenhang zwischen Budget und Kompetenzen wird unsere Finanzierungssituation als Hebel verwendet, um die Autonomie insgesamt in Frage zu stellen. Diese Problematik bleibt virulent, ganz gleich wie die Abstimmung ausgeht. Statt nur auf uns zu schauen, sollten wir versuchen, mit allen Regionen gemeinsam für eine vernünftige Dezentralisierung und die Umsetzung des Grundsatzes der „fairen Kooperation“ zwischen Staat und Regionen einzutreten.