Kolonialismus ohne Vorwurf
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Liliana Angulo Cortés, Sammy Baloji, Binta Diaw, Abdessamad El Montassir, Ufuoma Essi, Alessandra Ferrini, Kapwani Kiwanga, Francis Offman, Vashish Soobah und Betty Tchomanga, sowie das Künstlerkollektiv The School of Mutants Werke schlängeln sich durch die geteilte Kolonialgeschichte und andauernde kolonialistische Themen der Gegenwart. Bei der titelgebenden Linie handelt es sich um die vielleicht besser bekannte Periadriatische Naht, eine sogenannte tektonische Verwerfungslinie. Es ist die erste Ausstellung des neuen Kunst Meran Kuratorenduos Lucrezia Cippitelli und Simone Frangi. Gemeinsam hat man bereits ein Drei-Jahres-Projekt mit weiterem klingendem Namen „The Invention of Europe. A tricontinental narrative“, das ähnliche Schwerpunkte in Südamerika und schließlich Asien mit zwei weiteren Ausstellungen und Veranstaltungsreihen setzen möchte. Gleichzeitig soll dem kollektiven, unreflektierten Gedanken eines „monolithischen“ Europas und dessen Selbsterzählung ein kritischer Blick gelten.
Um die künstlerischen Metaphern der mehrheitlich afrikanisch stämmigen oder afrikanischen Künstlerinnen und Künstler verständlicher zu gestalten, gibt es das in deutscher und italienischer Sprache aufliegende Begleitheft ab Start mit den Texten in entsprechender leichter Sprache. Diese richtet sich auch an Menschen, die im Prozess sind, eine der zwei großen Landessprachen zu lernen. Im ersten Stock sind es zuerst die Wandarbeiten in Form großer Briefmarken, die ins Auge fallen und Teil einer mehrteiligen Recherche zu Gaddafis Staatsbesuch in Italien und der Person Omar al-Mukhtarssind. Alessandra Ferrini betrachtet beides in „Sight Unseen“. Gadafi hatte ein Foto von al-Mukhtar beim Staatsbesuch an seiner Brust getragen, die Lesebrillen (englisch: sight) des Revolutionärs werden seit Jahrzehnten von Lybien zurückgefordert, nachdem diese bei der Auflösung des Kolonialmuseums in Rom scheinbar verloren gingen. Das Thema wird uns, auch durch die Serialisierung in den Postkarten, aus einer Perspektive jenseits des Mittelmeeres gezeigt.
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Den Hibiskustee bringt Binta Diaw in die Ausstellung: Auf weißen Tauftüchern, die auch bei Hochzeiten Verwendung finden und aus Österreich nach Ägypten importiert werden, hat sie ihn ausgeschüttet, die Flecken von „Carcadè“ sind auch ein Fingerzeig auf Kolonialgeschichte. Im Nebenkämmerchen bildet der Tee Seen, verbunden durch Flussarme getrockneter Blüten. Blutend auf Stoff oder stagnierend in Pfützen, ist die Metapher für koloniale Gewalt nicht schwer zu lesen. Der Tee aus Hibiskus war zu Zeiten der Kolonialkriege als Alternative zum nicht längererschwinglichen Tee der Briten angepriesen worden. Ähnlich führt uns ein Stockwerk höher Francis Offman in seine Landschaften und Landbezüge ein. Das Zimmer, in dem uns die Malereien zu allen Seiten hin begrüßen, wird von mehreren kleinen, teils angerissenen Papierbögen und der großformatigen Arbeit im Titelbild abgeschlossen. Immer wieder findet sich auf den versprengten Blättern Kaffee wieder, der auch die Landschaft Ruandas in ihrer Zerissenheit widerspiegelt, deren Exportgut vor allem im Ausland hohe Profite erzielt.
Im obersten Stock werden wir noch einmal in besonderer Art und Weise an das Werk der Kanadierin Kapwani Kiwanga herangeführt, das der Schwerpunktsetzung mehr als standhält. In ihrem „Sisal13“ (aus einer Agavenart, die in Afrika eingeschleppt wurde) und der lokalen Fortsetzung ihrer Reihe „Flowers for Afrika“ wird die Kunst zum Fingerzeig, zur bildlichen und greifbaren Metapher. Interessant daher, dass der Abschluss der Ausstellung mit Werken von Liliana Angulo Cortès gestaltet ist, die sich mit botanischen Expeditionen und dem Wissensverlust durch die Missachtung indigenen Perspektiven beschäftigt hat und einen archivarischen Ansatz verfolgt, der offen, seriös und auch etwas trocken auf den ersten Blick scheint.
Ob Kolonialismus nun als Verwerfung oder als Vorwurf behandelt wird, die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit bleibt ein Prozess, bei dem Reibung entsteht, auch wenn sie hier erst bei näherer Betrachtung zum Vorschein kommen. Sicher, es findet sich auch die eine oder andere Videoarbeit in der Ausstellung, die uns in medias res sensorischer an die Dinge heranführt, aber die Metapher ermöglicht es vielleicht dem einen oder der anderen eine anfängliche Abwehrhaltung zu überbrücken.
Die Insuburische Linie verläuft noch bis 13. Oktober durch Meran. Das Ausstellungsprogramm sieht zahlreiche Performances und Filmvorführungen vor.